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Das taube Herz

Titel: Das taube Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urs Richle
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Verwurzelung in der Familie und in der Welt am Leben zu erhalten. Er fühle sich matt und leblos, seit die Unruh seiner Montre Oignon stehen geblieben sei, und noch vor seiner Weiterreise in zwei Tagen wolle er das genesene Erbstück wieder abholen oder sterben.
    Solche und andere abstruse Geschichten rund um havarierte, verletzte, beschädigte oder malträtierte Uhrwerke hörte Jean-Louis täglich. Auf dem Regal über seinem Arbeitstisch standen nur Meisterwerke und Schmuckstücke von unschätzbarem Wert, herangetragen aus der ganzen Welt. Gut sichtbar für jeden Passanten warteten sie darauf, von ihren Besitzern, ihren Sammlern, ihren Liebhabern, denen die im Sekundentakt schlagenden mechanischen Uhren zum eigenen Herzen geworden waren, wieder abgeholt zu werden. Kleine, schicke Tischuhren, von goldenen
Stuckaturen umschlungene, von künstlichen Blumen und Pflanzen umrankte Pendeluhren, mit Diamanten und Emailmalereien reich verzierte Schmuckuhren standen da, Meisterwerke der klassischen und der fortgeschrittenen Komplikationen liefen sich im Schaufenster der Boutique Sovary - Horloger Réparateur den Rang ab. Und zu jedem Stück gab es eine Geschichte zu erzählen. Jede hier stehende Uhr trug, schweigend, aber selbstverständlich und gut verborgen, ein Stück Weltgeschehen in sich. Geschichten, die Jean-Louis’ Kunden ihm erzählten, an denen er teilhaben konnte, indem er die Hemmung, ein Ankerrad, ein Federhaus reparierte, zerbrochene Zeiger, Sperrstifte oder abgenutzte Kronräder ersetzte. Während er die Mechanik der Uhren reparierte, half er angeschlagenen Gemütern wieder auf die Beine, barg familiäre und persönliche Schätze, verlieh verletzten Seelen die verdiente ewige Ruhe, erlaubte abrupt abgerissenen, unterbrochenen Geschichten ein glückliches Ende oder mehrere zusätzliche Kapitel. Nur eine einzige Uhr auf dem Regal trug nicht die Geschichte eines Kunden, sondern ein Stück seiner eigenen, ein Stück von Jean-Louis Sovarys Geschichte in sich: Ein Exemplar der Rose Blanche, eine jener Schmuckuhren aus dem Hause des Maître Falquet im nahegelegenen Ferney, die er vor wenigen Jahren mit gefälschten Uhrwerken selbst zusammengeflickt hatte, lag da zwischen all den anderen Prunkstücken, die einzige Uhr im ganzen Laden, die Jean-Louis selbst gehörte, das einzige Schmuckstück, welches das Regal und die Boutique nie mehr verlassen würde und die Blicke der Passanten auf sich zog. Nicht selten blieben Herren in langen Mänteln, mit Hüten und mit eleganten Damen am Arm vor dem
Fenster stehen, beobachteten den mit seinem Okular über ein winziges Räderwerk gebeugten Meister Sovary bei der Arbeit, spielten mit dem Gedanken an diese oder jene Anschaffung fürs Haus, dieses und jenes Geschenk für ihre Gattin oder ihre Geliebte, und jedes Mal musste Jean-Louis die von der beeindruckenden Pracht der ausgestellten Uhren überwältigten Herren enttäuschen.
    »Nein, tut mir leid, ich verkaufe nicht, ich repariere nur. Alle ausgestellten Modelle sind in Privatbesitz«, wiederholte er tagaus, tagein und konnte nicht schnell genug wieder an seine Arbeit zurückkehren.
    Allerdings stimmte das nicht ganz. Jean-Louis war nicht in der Lage, so wie er sich das ursprünglich vorgenommen hatte, sein kreatives Potenzial zu zügeln und sich nur auf Reparaturen zu beschränken. Im Geheimen baute er an eigenen Uhrwerken. In einem hinteren, fensterlosen Zimmer hatte Jean-Louis nach nur zwei Jahren über hundert Taschen-, Spiel- und Pendeluhren gebaut, die im Innern ganz unscheinbar die Unterschrift JLS trugen. Aber darüber sprach er mit niemandem, und außer Frage stand für ihn, auch nur ein einziges Exemplar seiner Kreationen zu verkaufen. Um jeglichem Verdacht zuvorzukommen, arbeitete Jean-Louis nur nachts an den eigenen Uhrwerken und verbrachte die Tage ausnahmslos im Atelier mit Reparaturen anderer Meisterwerke.
    Es war an einem grauen, nebelverhangenen Oktobermorgen, während Jean-Louis dem Geist des römischen Handelsmanns im Innern seiner Montre Oignon wieder Leben einhauchte, als ein älterer Mann im langen Lodenmantel die Boutique betrat. Unter seinem linken Arm trug er ein Paket, so groß wie ein Hühnerkorb. Er zog den Hut
und legte es auf den Ladentisch. Mit wenigen Handgriffen hatte der Kunde die unzähligen ausgefransten Schnüre mit einem kleinen Messer weggeschnitten und das verschmutzte Leintuch entfernt. Darunter erschien eine aus alten Holzlatten zusammengezimmerte Kiste.
    »Maître Sovary«, sagte der

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