Das taube Herz
langjährigen Angestellten, Partner und Freund getäuscht. Wie hatte er nur so blind sein können?
In solche und weit finstere Gedanken versunken, griff Léon Falquet erschüttert nach Feder und Tinte und einem Stück Papier. »Gesucht: Aushilfe«, schrieb er mit zittriger, blasser Schrift darauf. Er las die beiden Wörter noch einmal. Eigentlich hatte er »Uhrmacher« schreiben wollen,
aber den Hugenotten gegenüber durfte er sich keine Blöße geben, und schon wollte er das Papier wieder zerreißen und in den Ofen werfen. Aber dann faltete er das Blatt andächtig der Länge nach und brachte es zur Vitrine hinüber, schob ein Prachtexemplar der Rose Blanche etwas zur Seite und legte die Annonce ohne große Hoffnung daneben. Es war bestimmt zwecklos, die Hugenotten zahlten besser, Voltaire hatte seine Beziehungen quer durch ganz Frankreich, und er, Meister Léon Falquet, würde, wenn nicht ein Wunder passierte, demnächst seine Werkstatt schließen müssen. Denn von der Uhrenmechanik hatte Léon Falquet keine Ahnung. Und ohne Uhrwerk, ohne das schlagende Herzstück, waren seine Kreationen nichts als wertlose, leblose Hüllen.
Von all diesen Sorgen, die Maître Falquets Seele auffraßen, wusste Jean-Louis noch nichts, als er an demselben Tag am staubigen Fenster der kleinen Arkade Léon Falquet - Créateur stand und eine aus Silber und Email gearbeitete Rose bestaunte.
9
Am späten Vormittag hatte Jean-Louis die Wagen sicher in den Hof des Hauses Servant & Boursault manövriert und abgespannt. Die Pagen wurden gerufen, um die Kisten sorgfältig abzuladen und im Atelier auszupacken. Die Pferde sollten ordentlich versorgt werden, ihm und seinem Kutscher Robert wurde ein Zimmer angeboten. Aber kaum hatten sich die beiden auf den harten Pritschen zur Erholung ausgestreckt, zog es Jean-Louis hinaus auf die Straße, zwischen die Häuser, unter die Menschen. Er war nicht so weit gereist, um sich in einem Zimmer einzuschließen. Das kleine Dorf Ferney lag am Fuß des Juras still unter der Mittagssonne. Von den hektischen Ereignissen der letzten Monate war nichts zu spüren. Die frisch hergezogenen Hugenottenfamilien hatten sich in den Häusern eingerichtet. Die Handwerker, Kunstschmiede, Emailmaler und Finisseure saßen hinter verschlossenen Türen an ihren Werkbänken. Jean-Louis’ Vater hatte es also geschafft, in dieser neuen Hochburg der Uhrmacherei einen Kunden zu ergattern, ihn mit fein ziselierten Gehäuserohlingen zu beliefern, gebaut aus Holz, das er im ehemaligen Schweinestall überwinterte, um es ganz auszutrocknen, bevor er es zersägte, hobelte und zusammenbaute in der florierenden Werkstatt Sovary & Fils - Constructeurs. Was für ein Schwindel, was für eine hölzerne, ignorante Aufschneiderei,
dachte Jean-Louis, während er nun durch die staubige Scheibe eine fein ausgearbeitete Rose betrachtete, ein Objekt, gebaut aus Silber und Email, das jeder echten, auf natürliche Weise gewachsenen Rose das Wasser reichen konnte, mehr noch, denn sie war größer als eine natürlich Rose, und sie ließ sich aufklappen wie eine Puderdose. Das war ersichtlich aus dem zweiten Exemplar des gleichen Schmuckstücks, das daneben lag, aufgeklappt, die funkelnden, glitzernden Innereien präsentierend, die nichts weniger waren als die kunstvoll hergerichtete Anzeige der Zeit durch die traditionellen zwei Zeiger, die für die Stunden und die Minuten über die im Kreis angeordneten Zahlen wanderten, die Nachzeichnung der Mondphasen durch eine graue, sich im Kreis drehende Sichel und die Bezeichnung der Wochentage in der Mitte des Zifferblattes. Was Jean-Louis hier sah, war ganz und gar ein Uhrwerk im herkömmlichen Sinn, dennoch wusste er nicht recht, ob es sich bei dieser Rose um eine als blühende Rose geschmückte Uhr handelte oder nicht doch eher um ein mit einer Uhr bestücktes Schmuckstück, denn auf der Rückseite, das erkannte Jean-Louis jetzt, befand sich eine aufklappbare Nadel, so dass die Rose leicht auch von einer noblen Dame als Brosche getragen werden konnte. Jean-Louis hatte in La Chaux-de-Fonds bereits Schmuckuhren gesehen, aber diese hier übertraf alles, was er an Schönheit und ausgereifter Kunstschmiedearbeit in Verbindung mit der aktuellen Uhrenmechanik jemals gesehen hatte.
Erst jetzt entdeckte Jean-Louis das kleine Schild, das neben der aufgeklappten Rose lag. Er las diese blassen, zittrig hingekritzelten Zeichen in der Hoffnung, etwas über die schmucke Rose zu erfahren, über das Baujahr, den
Créateur,
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