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Das taube Herz

Titel: Das taube Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urs Richle
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große bunte Vögel standen auf dürren Stelzen, einige davon aufgeklappt, so dass Jean-Louis die darin dargestellten Naturszenarien und eingelassenen Uhrwerke bestaunen konnte. Weiter oben folgten diamantenbestückte, aufklappbare Hirschkäfer, große, mit ganzen Bildergeschichten bemalte, in Gold gefasste Straußeneier, auch sie aufklappbar zu zwei runden Kreisflächen, auf denen sich die Zeit in Stunden, Minuten, Jahreszeiten und Jahreszahlen abspielte. Jean-Louis’ verzauberter Blick wanderte
über diese nicht enden wollende Folge von Variationen aus der Tier- und Pflanzenwelt, aus der Welt des Schmucks und der Mode und endete auf einem kleinen, hölzernen Globus, auf dem die Weltkarte in verschiedenen Holzarten in Intarsien ausgelegt war.
    »Sie arbeiten ja doch mit Holz?«, bemerkte Jean-Louis, während Maître Falquet ein Exemplar der Rose vom Regal herunterholte.
    »Das ist ja auch kein Tannenholz, das ihr im Jura verarbeitet. Hier handelt es sich um teure Hölzer aus Indien und aus Südamerika. So etwas bringen die Ignoranten im Jura niemals zustande. Aber nun schau her. Dieses Schmuckstück habe ich vor sechzehn Jahren kreiert. Es trägt den Titel ›La Rose Blanche‹ und wurde bis an den französischen Hof verkauft.«
    Maître Falquet klappte die Rose auf, und nun konnte Jean-Louis die innere Uhrenbesetzung besser betrachten als vorhin durch die schmutzige Schaufensterscheibe.
    »Das Ganze ist in weißem Gold gearbeitet«, erklärte Maître Falquet mit einem gewissen Stolz, »die Blütenblätter sind aus Email, und der Kelch ist in Keramik gebrannt.«
    Nun öffnete er die Rückseite der Rose, an der die verschließbare Nadel angebracht war. Durch eine kaum fünf Zentimeter große Öffnung konnte Jean-Louis jetzt die innere Uhrenmechanik sehen.
    »Sie bestellen bei Sandoz in Neuenburg, wie ich sehe«, sagte Jean-Louis.
    »Du kennst dich in der Uhrmacherei wohl aus!«
    »Ihre Rose Blanche trägt sehr schwungvoll gearbeitete Zeiger. Solche Formen habe ich bisher nur in Uhrwerken
von Sandoz aus Neuenburg gesehen, zudem trägt das Federhaus sein Siegel. Ein relativ schlechtes Uhrwerk für eine so schöne Uhr, billig natürlich, aber Ihre Meisterwerke hätten auch innere, nicht nur äußere Qualität verdient, Maître Falquet. Verwenden Sie oft fremde Uhrwerke? Ich dachte, Sie würden sie selber herstellen. Sie arbeiten doch mit einem Uhrmacher zusammen, nicht wahr?« Jean-Louis zeigte auf den zweiten der beiden Arbeitstische im Raum, auf dem Okulare, Zangen, Pinzetten, Stiftenkolben und ein ganzes Arsenal an Federn, Rädern, Stiften und Schrauben herumlagen.
    Maître Falquet schaute ihn streng an und zog an seiner Pfeife, stieß eine Rauchwolke aus, schien etwas sagen zu wollen, zog dann noch einmal an seiner Pfeife.
    »Was weißt du sonst noch über die Uhrmacherei? Bei wem hast du gelernt?«
    »Ich bin kein Uhrmacher, Herr Falquet, ich war im Jesuitenkolleg in Porrentruy bis vor einigen Monaten, zuerst als Schüler, danach habe ich drei Jahre als Bibliothekar gearbeitet. Und nun bin ich hier auf Handlungsreise für meinen Vater, den Kunstschreiner Sovary aus Le Locle. Uhren sind meine persönliche Passion, Herr Falquet, ihre Funktionsweise, die Mechanik. Die Uhrwerke von Jeanrichard, Blancpain, Jaquet-Droz kenne ich in- und auswendig.«
    »Kannst du sie auch reparieren?«
    »Geben Sie mir die nötigen Bestandteile, Herr Falquet, und ich baue Ihnen ein Uhrwerk mit einer Duplexhemmung nach Pierre Le Roy, einer englischen Ankerhemmung oder jedes andere Uhrwerk nach Vorlage.«
    Maître Falquet traute seinen Ohren nicht und ließ sich das eben Gesagte wiederholen.

10
    Zwei Tage später saß Jean-Louis Sovary in der Werkstatt von Maître Falquet auf dem alten Klavierstuhl, auf welchem Paul Irmiger über dreißig Jahre lang gesessen hatte, und baute kleine Uhrwerke in Schmuckdosen, in unfertige Fingerringe, in Broschen und aufklappbare Tiernachbildungen. Das Okular saß auf Jean-Louis’ rechtem Auge, als säße es dort seit Jahren. Sogar die Schürze hatte er vom Vorgänger geerbt, ungewaschen, voller Ölflecken, die Pinzetten und Zangen noch in der rechten Brusttasche.
    Am Vortag hatte Jean-Louis seinem Kutscher Robert den Auftrag gegeben, das Gespann, das sie zusammen schwer beladen hergefahren hatten, zurück zu seinem Vater zu führen. Da der Wagen nun leer war, konnte der Kutscher diesen problemlos allein den steinigen Weg hinauf nach Le Locle manövrieren. Zudem hatte Jean-Louis einen windigen Brief

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