Das taube Herz
aufgesetzt, in dem er seinem Vater erklärte, dass er für einige Monate in Ferney bleiben würde, um sich weiterzubilden, fürs Geschäft und für das Unternehmen Sovary & Fils - Constructeurs ein wichtiger Schritt in die Zukunft. Er nannte den durch den Verkauf der Gehäuserohlinge eingehandelten Ertrag, welchen er dem Kutscher mitgab, erlaubte sich, die Summe von 180 Louis für seinen eigenen Unterhalt in den kommenden Monaten abzuziehen, und schloss mit Wünschen und Grüßen an die ganze
Familie. Er war froh, seinem Vater diese Nachricht nicht persönlich überbringen zu müssen, obwohl er nicht ganz sicher war, ob dieser darauf mit Zorn oder nicht doch mit einer gewissen Erleichterung reagieren würde. Hatte er sich doch seinen Sohn insgeheim schon seit eh und je weit von sich fort gewünscht, erst in die ferne Versammlung eines Ordens und nun in die Distanz des Außenhandels. Jean-Louis versiegelte den Brief, steckte ihn dem Kutscher in den Rock und spürte, dass er damit seinem Schicksal einen Stoß versetzte, dessen Konsequenzen wie funkelnde, verheißungsvolle Nordlichter am Horizont aufzogen.
Léon Falquets Prinzip war einfach. Seit Jahren ließ er auf den Märkten der umliegenden Ortschaften kistenweise alte, defekte, ausrangierte Uhren und Uhrwerke zusammenkaufen. Dafür hatte er einen Händler engagiert, der regelmäßig nach Genf und Neuenburg fuhr, hin und wieder nach Bourg-en-Bresse und sogar nach Paris reiste, aber die größte Ausbeute kam nach wie vor aus dem Jura, dem Vallée de Joux und aus La Chaux-de-Fonds. Jean-Louis kannte die meisten dieser Uhrwerke. Es gab kaum eines, das er noch nie in seine Einzelteile zerlegt hatte, keines, dessen Signatur er nicht dem entsprechenden Uhrmacher zuschreiben konnte. Jean-Louis’ neue Aufgabe bestand nun darin, diese alten, kaputten Uhrwerke auseinanderund neu zusammenzubauen, um sie dann in die teuren Schmuckstücke des Maître Falquet einzubetten. Peinlichst musste er darauf achten, dass die Signaturen nicht verloren gingen.
»Kein Stück verlässt meine Werkstatt ohne die Signatur eines Uhrmachers!«, befahl Maître Falquet, was dazu
führte, dass einige Uhrwerke aus den unterschiedlichsten Bestandteilen neu zusammengesetzt wurden, in das einzig und allein um der Signatur willen eine Halterung oder ein Stift, das Federhaus oder ein signiertes Gesperr eines bekannten Uhrmachers eingebaut war. Jean-Louis entdeckte nun, wie sein Vorgänger die Einzelteile nach Funktionen organisiert und ein eigenes Regal mit signierten Bestandteilen angelegt hatte. Nach und nach dechiffrierte er die innere Ordnung im scheinbaren Durcheinander nach Nutzen, Bedeutung und Herkunft. Und schnell begriff er, was für einen Schwindel Maître Falquet mit seinem Gehilfen Irmiger über Jahrzehnte hinweg betrieben hatte. Diese eindrucksvollen Schmuckuhren, die in ihrer äußeren Form bis zur vollendetsten Schönheit ausgearbeitet waren, enthielten im Innern das billigste Flickwerk, das sich aus Ramsch und Abfällen der verschiedensten Uhrmacherwerkstätten der Umgebung zusammenbauen ließ. Viele dieser Uhren funktionierten nur halb, litten unter untolerierbaren Ungenauigkeiten und waren so fragil, dass sie, kaum verkauft, nach einigen Wochen bereits wieder zur Reparatur in die Werkstatt zurückkamen. Das Regal mit Wartungs- und Reparaturarbeiten war prallvoll, einige weitere Stücke lagen noch in Kisten verpackt im Flur, der von der Werkstatt hinüber in die Wohnung der Familie Falquet führte. Maître Falquet wusste sich allerdings gegen eine allzu große Flut an Rückläufen abzusichern. Jedes verkaufte Stück hatte per unterschriebenem Verkaufsschein Anrecht auf eine einmalige kostenlose Reparatur. Jede weitere Reparatur ging auf Kosten des Besitzers, was den Ansturm an Wartungsarbeiten seiner Schmuckstücke etwas reduzierte, gleichzeitig jedoch dazu führte, dass
unzählige Schmuckuhren aus dem Hause Falquet im Umlauf waren, die tatsächlich nur noch Schmuck und keine Uhren mehr waren, denn die Mechanik hatte längst den Geist aufgegeben.
Kaum an der Arbeit, wurde Jean-Louis sich der gewaltigen Sisyphusarbeit bewusst, auf die er sich bei Maître Falquet eingelassen hatte. Mit der Fertigstellung von bestellten Objekten war Maître Falquet einige Wochen im Verzug, und die Reparaturen türmten sich in der Werkstatt, im Flur und im Verkaufsladen. Sogar auf der Kellertreppe entdeckte Jean-Louis Kisten, in denen einige reich geschmückte Pendeluhren aus den früheren Jahren darauf
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