Das taube Herz
Schicksals seines Sohnes. Seit einigen Tagen wartete eine Ladung von fertigen Rohlingen darauf, nach Ferney bei Genf geliefert zu werden. Statt wie üblich einen Kurier zu bezahlen, sollte Jean-Louis den Wagen begleiten und die Verhandlungen mit den Kunden übernehmen, denn die im Kollegium entwickelten rhetorischen Stärken seines Sohnes waren auch Vater Sovary nicht entgangen, obwohl er gerade diese zum Teufel wünschte. Mit einem Großmaul wie ihm lasse sich nicht zusammenarbeiten, aber vielleicht Geschäfte machen!
Jean-Louis war es recht, alles war besser, als sich täglich mit seinem Vater um Lächerlichkeiten zu streiten.
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Einige Monate bevor Jean-Louis mit seiner Lieferung in Ferney eintraf, am 15. Februar 1770, das hatte er von einem Drucker in La Chaux-de-Fonds erfahren, war es in Genf zwischen einigen Natifs, wie man die Nachfahren französischer Hugenotten nannte, und Vertretern einheimischer Adelsfamilien zu einer blutigen Auseinandersetzung gekommen, die das Leben von drei Aufständischen gekostet und sechzig weitere in den Kerker gebracht hatte. Wie wild gewordene Hähne hatten sich die beiden Bevölkerungsschichten seit Monaten um die Vormachtstellung in der Stadt gerauft. Seit dem 16. Jahrhundert hatten Hugenotten Zuflucht in der Stadt Calvins gesucht, Kapital, die Uhrmacherei und die Emailmalerei mitgebracht. Gleichzeitig nahmen sie nach und nach ganze Wirtschaftszweige, Quartiere und Teile der öffentlichen Meinung in Beschlag, was die einheimischen Genfer den Zugezogenen mit immer strikteren Einschränkungen politischer, ziviler sowie ökonomischer Rechte heimzahlten. Einige Hugenottenfamilien waren bereits ins angrenzende französische Dorf Ferney emigriert, wo der Schriftsteller François-Marie Arouet, besser bekannt unter dem Künstlernamen Voltaire, der persönliche Animositäten und alte Querelen mit der Genfer Obrigkeit austrug, ihnen großzügig und eigennützig Asyl gewährte. Die Verhaftung eines Natifs
namens Resseguerre unter falschen Anschuldigungen, der daraus resultierende Aufstand der Hugenotten und die blutige, mörderische Antwort der Genfer Ordnungshüter am 15. Februar boten Voltaire, in seinem sechsundsiebzigsten Lebensjahr, endlich die idealen Voraussetzungen, um seinen Kampf gegen Genf auch auf kommerzieller Ebene aufzunehmen. Großzügig öffnete er den fliehenden Hugenotten seine Scheune. Diese wurde kurzum in ein Atelier für die Uhrenproduktion umgekrempelt. Voltaire kümmerte sich um die Behausung der Emigranten, lieh ihnen Geld, ließ das für die Ausschmückung der Uhren und Pendulen nötige Gold besorgen und kümmerte sich gleich selbst um die Vermarktung der Produkte der frisch in seinem Garten installierten Uhrenmanufaktur. Wortgewandt pries er seine neuesten Errungenschaften quer durch den französischen Adel an und nützte dabei geschickt sein literarisches Renommee. Nur gerade sechs Wochen nach dem Eintreffen der ersten Emigranten aus Genf lieferte der mit allen Wassern gewaschene Voltaire Anfang April 1770 die ersten Uhren an die Duchesse de Choiseul und an den König. Voltaires Plan, die Genfer Wirtschaft zu ruinieren, aus Rache dafür, dass die benachbarte Obrigkeit ihn für einen Artikel mit dem Titel »Genève« in der Enzyklopädie von 1757 gerügt hatte, schien sich endlich in die Tat umsetzen zu lassen.
Die Bauern rund um sein Anwesen, deren geheime Schreinerei und Kunstschmiedetätigkeit er viele Jahre vergebens als illegal zu unterdrücken versucht hatte, da sie die Genfer Uhrenwirtschaft belieferten, spornte der Autor nun an, gerade diese, die über all die Jahre hinweg klandestin praktizierten und erlernten Fertigkeiten in seinen, in
den Dienst seiner Uhrenmanufaktur zu stellen. Voltaires Unternehmen florierte rasch. Neue Häuser, Ateliers und Werkstätten wurden gebaut. Berühmte Uhrmacher und Emailmaler aus der Umgebung und aus ganz Frankreich reisten an. Mehrere kleine Unternehmen bildeten sich so unter Voltaires Protektion in Ferney, geführt von je zwei Uhrmachern, unterstützt durch Schreiner, Kunstschmiede, Gehäusebauer, Finisseure, Vergolder, Juweliere, Diamantenschleifer, Emailmaler. Dufour & Céret, Valentin & Dalleizette, Servant & Boursault, Panrier & Mauzié hießen die Häuser, und sie produzierten die Uhren, die kurz zuvor noch in Genf hergestellt worden waren. Porträts von Louis XVI, Marie Antoinette, Choiseul, Katharina II. und Voltaire höchstpersönlich schmückten die vergoldeten oder versilberten Gehäuse. Um das nötige
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