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Das taube Herz

Titel: Das taube Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urs Richle
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entlassen hatte, das zweite Dutzend überschritten. Keine hielt es länger aus als ein paar Monate, und die Perioden wurden immer kürzer. Keiner Frau im ganzen Land schien es gegeben, Ana schützend in den Arm zu nehmen, ihr die nötige Geborgenheit und Wärme zu schenken, die jedes Kind unzweifelhaft braucht, um groß und stark zu werden, um dem Leben und dessen Widrigkeiten gewachsen zu sein.
    »Wen wundert’s«, sagte er eines Abends resigniert zu seiner Frau und starrte in das knisternde Kaminfeuer, »dass Ana so spät sprechen gelernt hat und noch immer so seltsame Fehler macht. Alle paar Wochen kommt eine neue Ersatzmutter und versohlt ihr den Hintern. Wem soll sie da noch trauen?«
    »Soll ich ihr etwa selbst den Hintern versohlen?«, erregte sich die Gräfin. »Sie wollen damit doch nicht etwa andeuten, ich sei eine schlechte Mutter?«
    Der Graf verneinte aufs Heftigste, insgeheim war es jedoch genau das, was er zu sagen wünschte, sich aber nicht getraute. Stattdessen verwünschte er alle Ammen und Gouvernanten, alle Kindermädchen und Ziehmütter in Grund und Boden, die allesamt nicht imstande waren, sich anständig um seine Tochter zu kümmern.

    Mit drei Jahren begann Ana endlich einige Wörter nachzusprechen, Wörter, die für sie jedoch keinen konkreteren Sinn zu ergeben schienen, als denjenigen der Lautmalerei, so wie sie zuvor irgendwelches Kauderwelsch von sich gegeben hatte, eintönig und einsilbig, ohne Unterbrechung, atemlos beinahe, so als rezitierte sie ein unendliches, fremdländisches Gebet. Diese Litaneien versetzten die Gräfin in verzweifelte Wutausbrüche, die in der Regel mit lautstarken Schimpftiraden, welche sie mit offensichtlichem Genuss über die gerade frisch eingestellte Ziehmutter ausschüttete, endeten. Die Beschimpfungen wuchsen schnell zu Anschuldigungen und Verleumdungen aus, was in der Regel mit empörten Rechtfertigungen und hässlichen Verwünschungen oder ganz einfach mit dem plötzlichen Verschwinden der Ziehmutter endete. So oder so kam es in regelmäßigen Abständen und so sicher wie das Amen in der Kirche zum Bruch.
    Graf de la Tour wagte es schon gar nicht mehr, nach Nizza zu reiten, um sich dort nach einer Ziehmutter oder nach einem einfachen Kindermädchen umzuschauen, so lächerlich hatte er sich dort bereits gemacht. Er musste nach Antibes, Grasse und Draguignan ausweichen, in kleinere Dörfer und auf entlegene Höfe. Aber auch dort war es inzwischen schwierig geworden, denn der Ruf seiner sonderbaren Tochter und vor allem derjenige seiner unerträglichen Frau, dieser Rabenmutter und tyrannischen Schlossherrin, hatte sich weit herumgesprochen. Immer höher wurde der Lohn, den er versprechen musste, um überhaupt noch eine Frau zu finden, die sich der kleinen Ana annehmen wollte. Aber diesmal schien auch die letzte Hoffnung zerronnen und verloren.

    Maria, ein stilles, braves Mädchen von noch nicht einmal vierzehn Jahren, selbst noch fast ein Kind, das fünfundzwanzigste Kindermädchen, das Graf de la Tour im Hafen des italienischen Ventimiglia hatte aufgabeln können, hergebracht und einquartiert vor sieben Wochen, hatte sich vor vier Tagen in die Kammer eingeschlossen, harrte darin aus und schwieg, bis der Knecht die Tür aufbrach und das halb verhungerte Mädchen heraustrug und in den Stall brachte, um es dort mit kuhfrischer Milch und etwas Brot zu versorgen. Unter keinen Umständen, so Maria, würde sie ins Haus der Herrschaften zurückkehren, und unter keinen Umständen bliebe sie auch nur einen Tag länger auf Schloss La Tour, vorher würde sie verhungern, verdursten, sterben.
    Die Gräfin hatte Maria angeschrien, natürlich, auf ihre ganz gemeine und verleumderische Art, so wie sie alle Ziehmütter und Kindermädchen anschrie. Aber deswegen sich zu Tode hungern, das ging dem Grafen doch zu weit, erschien ihm geradezu ein Angriff höchster passiver Aggressivität auf seine Zuvorkommenheit, seine Korrektheit und seinen Anstand. So als hätte das Mädchen aus Ventimiglia ganz unbewusst zur stärksten aller Waffen gegriffen, die ihn zu schnellem Handeln zwang.
    Es war ein Freund, ein Tuchhändler aus Marseille, der ihm mit nützlichem Rat zu Hilfe kam. Vielleicht war ja gar nicht seine Frau, die Mutter, sondern das Kind selbst das Problem? Von welchem Dämon Ana auch besessen sein mochte, so war es doch sie, um die sich alles drehte. Die Hätscheleien und Beschwichtigungen, die Rügen und Strafen, die sich die Kindermädchen einfallen ließen, die

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