Das taube Herz
entschlüsseln brauchte. Aber so oft er auch versuchte,
bestimmte Reaktionen von Ana zu provozieren, Figurenkonstellationen zu wiederholen, es gelang ihm nicht, in Anas Handlungen Muster zu erkennen. So oft der Arzt die Aufstellungen und Abläufe auch wiederholte, jedes Mal reagierte sie mit einer neuen Lösung. Jeder Zug schien aus einem neuen, unmittelbaren Geistesblitz zu entstehen, aus einer neuen Erkenntnis. Mehrere Wochen versuchte der Arzt, so das Geheimnis von Anas Spiel zu entschlüsseln, ohne Erfolg.
Eines Tages fand er zwei halbwüchsige Jungen in ihrem Zimmer vor, die sich an den Tisch gesetzt und begonnen hatten, eine Partie Schach gegeneinander zu spielen. Normalerweise reagierte Ana mit hysterischen Anfällen, wenn jemand ihr oder ihren Sachen zu nahe kam. Nun aber stand sie ruhig daneben und beobachtete das Vorgehen, wiegte den Kopf sacht hin und her und verfolgte jeden Zug der beiden Jungen.
»Wie lange spielt ihr schon?«, fragte der Arzt erstaunt.
»Das ist unsere zweite Partie.«
Der Arzt beobachtet die Szene noch eine Weile. Nachdem Schwarz gewonnen hatte, setzte er sich mit Ana an den Tisch und baute die Grundstellung des Schachspiels auf. Ana wartete geduldig, bis er die Figuren alle an den richtigen Platz gebracht hatte. Kaum war er fertig, fasste Ana den weißen Bauern auf d2, schob ihn zwei Felder vor, reagierte mit Schwarz, dann wieder mit Weiß und wiederholte in rascher Folge eine ganze Reihe von Zügen, die schließlich zu einem Schachmatt für Schwarz führten.
»Das ist unsere Partie!«, rief einer der Jungen, die eben gerade gespielt hatten, »sie hat unsere Partie nachgespielt!«
»Bist du sicher?«, fragte der Arzt ungläubig.
»An den Anfang kann ich mich nicht mehr erinnern, aber die Schlusspartie, da bin ich mir ganz sicher, das war genau die Konstellation, mit der ich vorher gewonnen habe.«
Der Arzt ließ die beiden Jungen noch einmal spielen und versuchte, sich die Züge zu merken. Außer der Eröffnung und den Schlusszügen, die wiederum zu einem Schachmatt für Schwarz führten, konnte er sich hinterher an nichts mehr erinnern. Dennoch setzte er Ana von Neuem vor die Grundkonstellation der Figuren, und Ana reagierte sofort. Sie spielte, soweit er und die beiden Jungen sich erinnern konnten, auch diese Partie in jedem einzelnen Zug genau nach und führte das Spiel zum gleichen Schachmatt für Schwarz, wie es während der Partie der beiden Jungen der Fall gewesen war.
Dann setzte sich der Arzt Ana gegenüber, stellte die Figuren neu auf und eröffnete mit dem Pferd. Ana reagierte sofort. Mit den Bauern baute sie erst eine starke Verteidigung auf und schlug ihn dann in wenigen Zügen mit einem Bauernopfer, das er unterschätzt hatte. Der Arzt war kein Schachmeister, aber aus der Schnelligkeit, mit der Ana reagierte, und aus der Genauigkeit und der Schlagkraft ihrer Züge erkannte er sofort ihre große Überlegenheit im Spiel.
In den darauffolgenden Wochen versuchte der Arzt nun alle möglichen Kombinationen aus, ließ die verschiedensten Leute gegeneinander und gegen Ana spielen, notierte Züge und Aufstellungen, und das Resultat war jedes Mal das gleiche. Ana spielte jede noch so komplizierte Partie von anderen Spielern allein getreu und ohne Fehler nach.
Spielte sie gegen jemanden, gewann sie immer mit einem Minimum an Zügen. Im ganzen Hospice war niemand zu finden, der Ana zu schlagen vermochte. Also suchte er Leute in der Stadt, in den Cafés, forderte Freunde und Bekannte auf, ins Hospice zu kommen und gegen Ana zu spielen. Schnell verbreitete sich die Kunde des neu entdeckten Schachgenies. Dort, wo sich sonst niemand freiwillig hinbegab, ins Hospice de la Charité, strömten nun plötzlich ganze Trauben von Menschen, um eines der Spiele des genialen Mädchens zu sehen oder gar selbst gegen die Meisterin anzutreten. Warteschlangen bildeten sich vor und im Hospice, Verpflegung wurde verlangt, geholt, gebracht. Über hundert Partien spielte Ana im Zeitraum von nur einer Woche, und sie gewann alle. In ganz Nizza schien es keinen wachen Geist zu geben, der Ana zu schlagen vermochte.
Der Arzt achtete peinlichst darauf, dass Ana von den staunenden Beobachtern nicht gestört wurde. Die kleinste Veränderung in ihrer Umgebung konnte Ana in einen Wutausbruch versetzen. Dann schlug sie mit Armen und Beinen um sich und drohte, die Partie vom Tisch zu fegen, was die sensationsgeilen Gaffer sofort als Unpässlichkeit im Spiel, als Versagen und schlechtes Verlieren
Weitere Kostenlose Bücher