Das taube Herz
Wasser zu trinken, Körner aufzupicken und sie verdaut wieder auszuscheiden. Zudem hatte man von einer gotteslästerlichen Schrift gehört, in welcher der französische, in die Niederlande geflüchtete Arzt Julien Offray de La Mettrie, sich auf René Descartes berufend, den menschlichen Körper als reine Maschine proklamierte, die es mit lustvoller Bejahung der Sinnesfreuden zu bedienen gelte. Seine Bücher waren per Gerichtsdekret verbrannt, La Mettrie von der Kirche verfolgt und von den prüden französischen Aufklärern totgeschwiegen worden. Ähnliches sollte zu dieser Zeit auch einem erfindungsversessenen, schöpfungs- und damit gotteslästerlichen
Konstrukteur von intelligenten Automaten blühen.
Und dennoch hatte ein österreichischer Hofbeamter sich nun also getraut, die Öffentlichkeit mit der Konstruktion eines solchen Automaten herauszufordern. Im Beisein ganzer Heerscharen gläubiger und ungläubiger Hofleute, schaulustigen Gesindels, gieriger Widersacher, eifersüchtiger Uhrmacherkollegen und skeptischer Vertreter von Kirche und Staat spielte der berühmte Türke in Wien, London und nun also auch in Paris siegessicher Spiel um Spiel gegen seine Gegner, als wäre seine innere Uhrenmechanik des Denkens fähig wie ein vernünftiger, ausgewachsener Mensch. Die besten Spieler wurden geholt, Schachmeister und Mathematikprofessoren, Ingenieure und Philosophen, Priester und Juristen. Wetten wurden abgeschlossen, und die Spekulationen loderten lichterloh. Ist schwarze oder weiße Magie im Spiel? Werden die Automaten mit unsichtbaren Fäden bedient? Durch Magnetismus gesteuert? Hat der Erfinder eine neue, elektromagnetische Entdeckung gemacht? Sitzt im Innern der Kiste ein Kind? Ein Krüppel? Aber wie kann ein Krüppel oder ein Kind gegen die besten Schachmeister des Landes gewinnen? Ist es Kempelen etwa gelungen, einen Homunculus zu kreieren, wie es Paracelsus bereits zwei Jahrhunderte früher proklamiert hatte? Ist der Golem wieder auferstanden? Hat der Erfinder seine Seele verkauft? In Artikel über Artikel erregte man sich in den Zeitschriften. Brandreden wurden vor den groß angekündigten Veranstaltungen gehalten und forderten die Annullierung der Aufführung von Schwindel, Betrug und Gotteslästerung. Demonstrationszüge versuchten, die Veranstaltungen zu blockieren,
Juristen und Autoren schrieben über das Phänomen des Schach spielenden Automaten und versuchten, die Wahrheit aufzudecken, ohne Erfolg. Das Geheimnis um den Modus Operandi des künstlichen Türken blieb ungelüftet.
Blaise Montallier, der Pariser Hoforgelbauer, Automatensammler und Entdecker von Jean-Louis Sovarys gefälschten Uhrwerken in Maîtres Falquets Rose Blanche, war einer der Stammgäste im Café de la Régence, dem Ort der Pariser Intellektuellen, Philosophen und Schriftsteller. Wer etwas von sich hielt, spielte im Régence Schach und versuchte, sich in der Hierarchie hochzuarbeiten.
Montallier hatte es noch nicht gewagt, den großen Meister François-André Danican Philidor herauszufordern und sich der Blamage im Café zu stellen, so wie es einige andere Stammgäste des Cafés bereits durchgestanden hatten. Montallier bewegte sich im vierten Rang, aber hin und wieder gelang es ihm, einen Gelehrten aus dem dritten zu schlagen, um dann jedoch selbst auch gleich wieder von sehr viel schlechteren Spielern aus dem fünften Rang besiegt zu werden. Durch diese Unzuverlässigkeit im Schachspiel büßte er im Café de la Régence einiges an Respekt ein, den er nur durch seine Leistungen im Orgelbau wieder wettmachen konnte. Hin und wieder präsentierte er im Café de la Régence den einen oder anderen Musikautomaten, den er für den Hof in Versailles konstruiert hatte, und erntete Beachtung, Lob, ja Begeisterung. Gleichzeitig konnte er so mit Erklärungen und der Ausbreitung seines gesamten mechanischen und akustischen Wissens auftrumpfen. Es war denn auch nicht erstaunlich, dass man
ihn, den besten und erfahrensten Mechanikus von ganz Paris, um seine Meinung fragte, als Mitte April im Café die Kunde umging, der Wiener Hofbeamte und Ingenieur Wolfgang von Kempelen sei mit seiner ganzen Familie in Paris eingetroffen, um die außergewöhnliche Konstruktion dem Hof, der Akademie der Wissenschaften sowie dem gemeinen Pariser Publikum vorzuführen.
»Dass ein Automat nicht nur durch Gesetze der mechanischen Kräfte vorbestimmte Bewegungen ausführt, sondern auch denkt«, hatte sich Montallier vorgewagt, ohne den Automaten gesehen zu
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