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Das taube Herz

Titel: Das taube Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urs Richle
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alle die Begeisterung für Philidor teilten und einige ihn als Genie ohne gesunden Menschenverstand bezeichneten, stand außer Frage, dass er nun anstelle des zweitrangigen Advokaten Bernard gegen den Schachtürken antreten solle. Philidor, so linkisch wie humorlos, den der feurige Empfang maßgeblich kalt gelassen hatte, stimmte trocken zu. Dass ein Automat das Schachspiel beherrschte, schien ihn nicht im Geringsten zu beeindrucken. Eben erst vor ein paar Wochen, bemerkte er abschätzig, hätten die Gebrüder Motgolfier es in Annonay geschafft, einen Ballon in die Luft steigen zu lassen. Wenn
der Mensch nun fliegen könne, weshalb sollte es ihm also nicht auch gelingen, Automaten zu bauen, die Schach spielten? Nichts schien mehr unmöglich in diesen wilden, modernen Zeiten. Aber der Automat, davon war Philidor überzeugt, könne nur so stark sein wie sein Erbauer. So lange ihm kein Mensch begegne, der es schaffe, ihn im Schach zu schlagen, so lange könne es auch keine von Menschenhand gebaute Maschine geben, die den Meister schlagen würde. Und wenn jemand ihn mit einem Schaubudentrick auf die Probe stellen wolle, dann nur zu, er habe nichts zu fürchten und auch nichts zu verlieren.
    Zwei Tage später war es soweit. Der österreichische Hofbeamte Wolfgang von Kempelen fuhr mit einem Zweiergespann beim Café de la Régence vor und ließ seine in Tücher gehüllte Konstruktion von fünf Bediensteten und dem Gehilfen Anthon vom Wagen herunterhieven. Im Café war für diesen Auftritt ein spezieller Platz geschaffen worden, die Tische hatte man auf die Straße hinausgetragen, die Stühle standen in Reihen wie in einem Theater. Nach den öffentlichen Präsentationen des Schachtürken im Hotel d’Aligre sollte es nun im Café zu einer geschlossenen Veranstaltung kommen. Aber die Kunde, dass Philidor Le Grand im Régence gegen den Schachtürken spiele, hatte sich wie ein Lauffeuer in der ganzen Stadt verbreitet, und die Leute standen auf der Straße Schlange. Die Türen mussten geschlossen werden, die Kellner lieferten sich heftige Wortgefechte mit ausgeschlossenen Gästen, eine Scheibe platzte unter dem Druck des Ansturms, und ein Handgemenge musste mittels Androhung von Wolfgang von Kempelens sofortigem Abzug aufgelöst werden. Schließlich enthüllte Kempelen unter den erwartungsvollen
und begeisterten Blicken des Publikums die mannsgroße, aus Holz geschnitzte Puppe, die, gekleidet in einen mit Hermelin verbrämten Kaftan und weiten Hosen, einen Turban auf dem Kopf, hinter einem großen hölzernen Kasten saß. Die orientalische Tracht, so erklärte Kempelen in einwandfreiem Französisch, sei eine Referenz an die Herkunft des nach dem Wort »Shâh«, was »König« bedeute, benannten Spiels, das zwischen dem 8. und 11. Jahrhundert aus Persien nach Europa gekommen sei. Auf dem Kasten lag ein großes Spielbrett, bereit für den Zweikampf. Der rechte Arm des Türken lag auf dem Tisch, in der linken Hand hielt er eine lange, türkische Pfeife.
    Bedeutungsschwere Pausen einlegend, marschierte Wolfgang von Kempelen vor seiner Erfindung hin und her. Bevor er den Automaten seine Kunst vorführen lasse, erklärte er, werde er das Innere der Maschine kurz präsentieren. Nun öffnete er eine der drei Türen an der Vorderseite des Kastens und drehte den Apparat auf seinen vier Messingrollen nach allen Seiten. Räder, Gestänge, Übersetzungen, Seile und Drähte waren in dem Kasten zu sehen. Montallier, der wie ausgemacht ganz vorne neben dem Automaten saß, verlangte, genauer hineinschauen zu dürfen. Kempelen ließ ihn ohne Weiteres gewähren. Außer einem sehr komplizierten Uhrwerksmechanismus konnte Montallier in dem Kasten jedoch nichts erkennen. Tatsächlich sah er zwischen den Rädern eine Walze mit Stiften, wie er sie selbst für seine Spielorgeln benutzte. Vielleicht lag Dardier mit seiner Annahme doch richtig, und Kempelen hatte es geschafft, eine unvorstellbare Menge möglicher Schachpartien auf dieser Walze zu speichern? Während Montallier tief in die Mechanik blickte,
begab Kempelen sich hinter den Kasten und öffnete auch dort ein Türchen. Sein Gehilfe Anthon reichte ihm eine brennende Kerze, damit erst Montallier, dann das gesamte Publikum sich davon überzeugen konnte, dass der Lichtschein den Kasten durchdrang und zwischen den Rädern kein Mensch saß, der die Puppe von innen heraus hätte steuern können. Danach schloss Kempelen die Türen, zog unten eine die ganze Breite des Kastens ausmachende Schublade auf,

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