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Das taube Herz

Titel: Das taube Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urs Richle
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haben, »das scheint mir ein Ding der Unmöglichkeit. Wie stellt ihr euch das denn vor? Soll etwa eines der Zahnräder im Innern des Uhrwerks plötzlich Entscheidungen treffen? Oder sind es die Schnüre, die denken? Die Drähte? Die Seilwinden oder die Übersetzungen? Wenn Automaten denken könnten, warum ziehen sie sich dann nicht selbst auf? Nein, nein, ohne menschliches Zutun sind alle Automaten, auch so komplizierte wie die Ente oder der Flötenspieler von Vaucanson - Sie erinnern sich, wir haben es selbst sehen können - nichts anderes als das, was sie von ihren Substanzen her sind: Holz, Metall, Porzellan, gezwirnte Fasern, alles Stoffe, die darauf warten, von uns angetrieben zu werden, unfähig, sich selbst zu bewegen. Wo um Himmels willen soll sich da auch nur der Funke eines Geistes befinden? Kommen Sie in meine Werkstatt, meine Herren, und sehen Sie sich die Konstruktionen an. Alles, was Sie dort an Erstaunlichkeiten vorfinden, ist nichts weiter als das Kunstwerk der Mechanik. Bewegungen werden durch mechanische Kräfte ausgeführt. Schwerkraft, Hebelkraft, Spannkraft, das sind die Kräfte, die die tote Materie antreiben. Leben wird
dabei nur angedeutet und nachgeahmt. Bei Kempelen wird es hingegen vorgetäuscht. Er tut so, als würde sein Automat denken, dabei ist er es selbst, der denkt. Ohne ihn ist dieser Schach spielende Automat nichts wert. Einen derartigen Schwindel hat es in der ganzen Geschichte der Wissenschaften wohl noch nie gegeben!«
    Ein Raunen war durch das Café gegangen, ein Gemisch aus begeisterter Zustimmung und verstohlenem Hohn.
    »Mein lieber Montallier!«, hatte ihm der Hofrat Dardier entgegnet, ein Spieler dritten Ranges, Freund von Legall und Chronist am Hof, »ich hoffe nur, Sie werden keine bösen Überraschungen erleben! Seit gestern ist der Automat nämlich in Versailles und spielt gegen allerlei erlauchte Gegner. Der Duc de Boullion zum Beispiel hat bereits gegen ihn gespielt und gewonnen. Aber ich sage Ihnen, ich habe das Spiel mitverfolgt, der Automat spielte schneller und weitaus sicherer als der Herzog und verblüffte durch einige kluge Züge. Zum Schluss verneigte er sich vor dem Duc und ließ ihn ganz offensichtlich gewinnen. Der Herzog meinte nach dem Spiel, der Automat sei ziemlich stark und gehöre bestimmt in den dritten oder zweiten Rang. Vielleicht unterschätzen Sie einfach die Möglichkeiten der heutigen Wissenschaften, Herr Montallier.«
    »Meine Herren«, mischte sich nun ein älterer Herr mit deutschem Akzent ein, »Physik, Chemie und Mechanik haben in unserer Zeit schon mehr Wunder bewirkt, als Fanatismus und Aberglaube sich in den Zeitaltern des Unwissens und der Barbarei überhaupt hätten vorstellen können!«
    Montallier war dem Deutschen schon einmal begegnet. Sein Name war Friedrich Melchior von Grimm, Diplomat
und Gesandter von Katharina der Großen, für die Grimm im großen Stil Kunst einkaufte. Grimm hatte sich bei Montallier nach einer automatischen Spielorgel erkundigt, sich ein paar Pläne zeigen lassen, aber dann war aus dem Geschäft nichts geworden.
    »Ich war gestern dabei«, fuhr dieser fort, »als einige Gelehrte sich den Türken anschauten und versuchten, seine Funktionsweise zu erklären. Aber den größten Naturwissenschaftlern und den begabtesten Ingenieuren gelang es ebenso wenig wie ihren österreichischen Kollegen zu ergründen, auf welche Art und Weise die Bewegungen des Automaten gesteuert werden. Dennoch bin ich davon überzeugt, und darin stimme ich Ihnen, Herr Montallier, zu, dass die Intelligenz des Spiels nicht der Mechanik, sondern einem menschlichen Hirn zuzuschreiben ist. Eine Maschine könnte nicht so viele verschiedene Züge ausführen oder sie vorausberechnen, es sei denn, sie stünden unter der Kontrolle eines intelligenten Wesens.«
    »Aber nun stellen Sie sich vor«, hatte Dardier sichtlich erregt erwidert, »alle möglichen Züge seien gerade, wie Sie eben sagten, vorausberechnet. Und nicht nur das, stellen Sie sich vor, jemand hätte alle diese Züge auf einer Walze festgehalten, sie in Blei gegossen, sie in Mechanismen umgesetzt, so wie Montallier ganze Partituren für seine Spielorgeln festhält und sie dann automatisch und durch rein mechanische Kräfte abspielen lässt. Was ist ein Schachspiel denn anderes als eine Partitur für den Geist. Jede Schachpartie lässt sich rein mechanisch nachstellen, genauso wie ein Musikstück. Warum soll das nicht möglich sein?«
    »Eine ganz bestimmte Schachpartie rein

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