Das taube Herz
mechanisch
nachzuspielen wie ein Musikstück, warum nicht«, hatte sich endlich der Mathematiker und Hofrat Serrault gemeldet, ein jüngeres Mitglied der Akademie der Wissenschaften, »aber haben Sie sich schon überlegt, wie viele möglichen Partien es, wie viele möglichen Züge es nach jedem Zug gibt? Haben Sie sich schon überlegt, wie groß die Walze sein müsste, um das alles festzuhalten, oder wie viele verschiedene Walzen es bräuchte? Überlegen Sie sich nur einmal, wie viele Möglichkeiten es für die Eröffnung eines Spiels und für die ersten Züge gibt. Für seinen ersten Zug hat Weiß zwanzig Möglichkeiten, sechzehn Bauernund vier Springerzüge, und Schwarz hat ebenso viele Antwortmöglichkeiten. Das bedeutet, nach dem ersten Zug können bereits vierhundert verschiedene Stellungen entstehen. Obwohl die möglichen Züge mit fortschreitendem Spiel abnehmen, so muss man doch die neuen Möglichkeiten jedes Mal mit den vorhergehenden multiplizieren, und man kommt schnell auf Millionen und Milliarden von möglichen Partien. Wo wollen Sie die denn alle speichern? Auf einer einzigen Walze etwa? Und wer soll die alle vorausberechnen? Nehmen wir mal lächerliche zehn Minuten an, um eine Partie aufzuschreiben und auf einer Walze zu notieren. Für eine Milliarde Partituren - und es gibt weitaus mehr, glauben Sie mir! - brauchen Sie dann zehn Milliarden Minuten, das sind bereits mehr als neunzehntausend Jahre! Meine Herrn, rein mathematisch gesehen ist Dardiers Erklärungsversuch ein Ding der Unmöglichkeit!«
»Also muss der Mechanismus irgendwie gesteuert werden!« Montallier war begeistert.
»Ich versichere Ihnen, meine Herren«, hatte Hofrat
Dardier insistiert, »wir haben den Automaten innen und außen untersucht. Außer einem sehr komplizierten Mechanismus konnten wir nichts feststellen. Und eine Verbindung zum ausführenden Assistenten oder zu Kempelen selbst war auch nicht zu finden. Vielleicht arbeitet er mit Magnetismus, aber das scheint mir nicht plausibel. Kempelen und sein Assistent bewegen sich während des Spiels kaum. Und obendrein müssten Kempelen oder sein Gehilfe sehr gute Spieler sein! Wie sonst sollte er Spieler des dritten und gar des zweiten Ranges schlagen?«
»Warum lassen wir ihn nicht gegen Philidor spielen?«, hatte ein korpulenter Herr mit Brille vorgeschlagen. Der Advokat namens Bernard gehörte zu den fünf französischen Spielern des zweiten Ranges. Er war zu eitel, um sich selbst als Gegner anzubieten. Er wusste, dass Philidor noch in London weilte und dort durch Blindpartien, die er gegen zwei, manchmal sogar gegen drei Herausforderer parallel spielte, Aufsehen erregte. Und prompt schlug man ihn, Bernard, als ersten Gegner des Automaten vor, wie es sich der Advokat wohl auch gewünscht hatte.
Zwei Wochen später wurde der Schachtürke im Hotel d’Aligre, in welchem Kempelen und seine Familie untergebracht waren, gegen ein kleines Entgelt dem Pariser Publikum vorgeführt, und die Partie gegen Bernard konnte organisiert werden. Der Schachtürke wurde offiziell ins Café de la Régence eingeladen, um dort gegen den Advokaten zu spielen. Der Rest der Herrschaften sollte das Spiel von allen Seiten aufs Genaueste mitverfolgen, um die wahre Funktionsweise des Automaten zu entschlüsseln. Montallier wurde ein Platz direkt neben dem Gerät zugesichert, damit er die Bauweise der Mechanik genau
studieren konnte. Aber Montallier selbst versprach sich davon nichts. Aufgrund seiner mechanischen Kenntnisse hatte er, ohne den Schachtürken vor Ort bei einem Spiel beobachtet zu haben, bereits ein festes Urteil über die Funktionsweise des Automaten gefällt. Für Fälschungen, Scharlatanerie und heuchlerischen Betrug hatte er ein ausgesprochen feines Gespür.
2
Noch bevor das Spiel gegen Bernard hatte stattfinden können, war Philidor, nunmehr genannt Le Grand, ruhmreich aus London zurückgekehrt. »Wunder von solcher Größe, dass man es nicht glauben würde, gäbe es nicht mehrere Zeugen dafür«, hatte eine Londoner Zeitung von Philidors drei parallel gespielten Blindpartien geschwärmt, von denen er zwei gewonnen und der dritten ein Remis abgerungen hatte. Der siebenundfünfzigjährige François-André Philidor, der nicht nur als Spieler, sondern auch als Autor eines Schachbuchs und als Komponist Erfolge feierte, war im Café de la Régence mit rauschendem Applaus empfangen worden. Die gesamte Gesellschaft im Café erhob sich und erwies dem großen Meister ihre Ehre. Auch wenn nicht
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