Das taube Herz
interpretiert hätten. Nachdem dies einmal passiert war, baute der Arzt eine kleine Holzkabine, in die sich Ana setzen konnte. Durch eine kleine Luke in der Front konnte Ana die Figuren greifen und das Schachbrett sehen und war so abgeschirmt von akustischer und optischer Unruhe. Am Schluss jedes Spiels holte der Arzt Ana aus der Holzkabine und verneigte sich mit ihr vor dem staunenden Publikum. Einige Besucher wollten die Kabine von innen
sehen, sie genauer untersuchen, sich selbst hineinsetzen, um auch ganz sicher zu sein, dass es sich nicht um einen billigen Trick handelte. Auch das gestattete der Arzt, und das Staunen fand kein Ende.
Zwei Wochen später kamen die ersten Leute aus Antibes angereist, um das Genie beim Spiel zu beobachten und gegen das Wundermädchen anzutreten. Einige verneigten sich ehrfurchtsvoll vor Ana, andere verhöhnten den Arzt als Scharlatan und Betrüger. Ana gewann ihre Spiele trotzdem. Schließlich baute der Arzt eine zweite Kabine, die es Ana ermöglichte, zwei Spiele gleichzeitig zu spielen. Sie war so viel schneller als alle Spieler, die ihr Glück gegen Ana versuchten, dass sie mit Leichtigkeit noch drei oder vier weitere Partien parallel dazu hätte spielen können.
Aber die Schachexperimente des jungen Arztes nahmen ein jähes Ende, als Ana eines Morgens verschwunden war. Der Laubsack in der Ecke des Zimmers, auf dem sie normalerweise schlief, war noch warm, und auf dem kleinen Tisch stand eine nicht zu Ende gespielte Schachpartie, was darauf hindeutete, dass Ana das Zimmer nicht aus freien Stücken verlassen hatte. Niemals hätte Ana eine Partie nicht zu Ende gespielt. Es war geradezu unmöglich, sie aus einem Spiel herauszureißen, ohne wildes Gezappel und stundenlanges Gekreische hervorzurufen. Jemand musste sie überwältigt und ihre Schreie erstickt haben, denn weder im Schlafsaal noch in den Gängen des Hospice hatte jemand etwas gehört oder gesehen. Von einem Tag auf den anderen war und blieb Ana de la Tour wie vom Erdboden verschluckt, als hätte es sie nie gegeben.
DRITTER TEIL
1
Im Frühjahr 1783, während Ana de la Tour im Hospice de la Charité in Nizza die klügsten und stärksten Schachspieler der näheren und ferneren Umgebung herausforderte und schlug, wurde in Paris im Café de Régence ein nicht minder erstaunlicher, ebenfalls des Schachspiels mächtiger Automat auf die Bühne geschoben, um François-André Danican Philidor, den größten Schachmeister seiner Zeit und Schüler des berühmten, dürren, inzwischen verblassten und ebenfalls anwesenden Sire de Legall de Kermeur herauszufordern. Gekleidet in türkische Tracht, mit Turban und Schal, saß eine mannsgroße Puppe hinter einem hölzernen Kasten, vor sich ein großes Schachbrett. Unter dem begleitenden Rasseln und Knattern der im Kasten verborgenen, intelligenten Mechanik bewegte die Holzpuppe Oberkörper, Arme und Hände, griff nach den Figuren und begleitete die Bewegungen mit überlegenem Kopfnicken oder fuhr mit dem Arm, sollte sein Gegner ihn mit einem falschen Zug auf die Probe stellen, vernichtend über das Spiel. Damit versetzte er das Publikum ebenso in Entzücken und in Entsetzen, wie Ana es in Nizza tat.
»Der Türke«, wie dieser Schach spielende Automat des Wiener Hofbeamten Wolfgang von Kempelen kurzum genannt wurde, hatte erst Maria Theresia, die Kaiserin von Österreich, dann ganz Wien und einige Jahre
später sogar den Großfürsten Paul von Russland beeindruckt. Die Mercure de France und andere französische und englische Zeitschriften hatten über den Türken bereits schwärmerische und auch zweifelnde Artikel veröffentlicht. »Diese Maschine ist des Teufels«, schrien die einen Kommentatoren. Kempelen ist ein Schwindler, lachten die anderen und waren sich mit Ersteren einig, dass ein Automat, so spitzfindig und hochentwickelt sein entfremdetes Uhrwerk auch sein möge, die menschliche Fähigkeit des Schachspiels nicht besitzen könne. Denn, so argumentierten die Skeptiker, sollte die Maschine über menschliche Intelligenz verfügen, musste der frevelhafte Schöpfer sie irgendwie geschaffen haben, und dies war nach Ansicht der einen, nur mit Teufels Hilfe, nach Ansicht der anderen nur durch einen technischen Trick der billigen Nachahmung möglich. Zwar hatte einige Jahre zuvor ein gewisser Jacques de Vaucanson in Paris der französischen Akademie der Wissenschaft bereits eine künstliche, mechanisch angetriebene Ente vorgestellt, die imstande war, mit den Flügeln zu flattern,
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