Das taube Herz
werden sehen, kein Feld wird zweimal betreten.«
Mehrere Gäste verlangten, den Automaten durch eine besonders abwegige Ausgangsposition herauszufordern,
aber der Türke, angetrieben durch simple Spannkraft einer Feder wie jede gemeine Standuhr, meisterte durch die Bewegungen seiner klapprigen Holzfinger jede Stellung mit Bravour.
»Darf ich den Gegner der versprochenen Partie, Herrn Philidor, nun bitten, es meinem Automaten gleichzutun?«, posaunte Kempelen ins raunende Publikum. Philidor, der bis zu diesem Zeitpunkt rauchend im Hintergrund an einem kleinen, runden Tisch gesessen hatte, erbleichte. Er drückte die Zigarre aus und zupfte sich die Weste zurecht. Den Rösselsprung? Was sollte diese Provokation? Philidor hatte den Rösselsprung bereits erfolgreich ausgeführt, aber nur von einem bestimmten Feld aus und unter gleichzeitiger Notiz der ausgeführten Züge. Das Publikum verlangte ihn am Spielbrett, das speziell für ihn neben dem Automaten auf einem separaten Tisch aufgestellt worden war. Die Herren in den ersten Reihen zögerten nicht, ihm den Springer auf ein Feld zu stellen, von wo aus Philidor nicht die geringste Ahnung hatte, wie er die geschlossene Variante des Rösselsprungs ausführen solle. Schon beim ersten Versuch musste Philidor sich beschämt geschlagen geben. Geknickt saß er über dem Brett, rauchte unaufhörlich, die Beine übereinandergeschlagen, wippte nervös mit einem Bein, trommelte mit den Fingern auf den Tisch. Kempelen hatte es geschafft, den großen Meister zu schlagen, bevor die Partie überhaupt erst begonnen hatte. Die Aufregung im Café war so groß, dass der Wirt und mehrere Vertreter des zweiten und dritten Ranges um Ruhe bitten mussten. Aber Kempelen hatte es nicht darauf abgesehen, Philidor zu demütigen. Noch bevor seinem Gegner ein zweites Problem für den Rösselsprung gestellt werden konnte,
brachte er die Figuren in die Grundstellung und beauftragte Anthon, das Spiel auf dem Nebentisch ebenfalls vorzubereiten.
Nun konnte die Partie beginnen. Der Türke solle mit Weiß eröffnen, erklärte Kempelen. Ein einmal ausgeführter Zug dürfe nicht zurückgenommen werden. Um die Spielweise des Automaten aus technischen Gründen nicht zu stören, werde die Partitur auf ein Spielbrett am Nebentisch übertragen. So könne Herr Philidor unter normalen Bedingungen spielen. Um möglichen Täuschungen und Manipulationen vorzubeugen, bat Kempelen jemanden aus dem Publikum, die Züge von einem Brett auf das andere zu übertragen. Nun gab Kempelen seinem Gehilfen wieder ein Zeichen. Dieser trat an den Automaten und zog ihn von Neuem auf.
Wieder passierte erst gar nichts. Dann setzte sich die Uhrenmechanik in Bewegung, der Anstoß des Räderwerks übersetzte sich aus dem Kasten heraus, und der Türke schwenkte kurz den Kopf nach beiden Seiten, dann hob er den linken Arm, ergriff einen Bauern, schob ihn zwei Felder vor und setzte den Arm kopfnickend wieder auf das Kissen zurück. Philidor antwortete sofort, und der Türke ließ nicht lange auf sich warten. In einigen raschen Zügen spielten sich der Meister und der Automat in eine komplizierte Stellung, die weder dem einen noch dem andern eine Vormachtstellung bescherte. Während des Spiels öffnete und schloss Kempelen das kleine Kästchen, welches er zusammen mit dem Kissen aus dem Innern des Automaten genommen hatte, mehrmals. Jemand wollte wissen, was es mit diesem Kästchen auf sich habe, aber Kempelen schwieg sich darüber aus. Philidors Beine zappelten nervös
unter dem Tisch. Er verlangte nach Ruhe und dass die gierigen Gaffer sich etwas von seinem Tisch zurückzögen. Nicht ein einziges Mal drehte er sich nach dem Türken um, der zwischen den Zügen nur dasaß, reglos und stumm, wie es sich für eine Stoffpuppe gehörte, während Philidor wie hypnotisiert auf sein Brett starrte und die Figuren in seinem Geist hin und her schob, bevor er sich zum nächsten Zug entschloss. Die stoische Ruhe des Türken irritierte das Publikum so, dass die meisten Beobachter daraus die strategische und taktische Überlegenheit des Automaten ableiteten, gestärkt durch die Tatsache, dass die Mechanik, kaum hatte Philidor gezogen, sich augenblicklich in Bewegung setzte. Manchmal klapperte und ratterte es länger, manchmal kürzer, bis das Klicken und Schnattern der einschnappenden Übersetzung zu hören war, welches dem Anheben des Arms jedes Mal vorausging, begleitet von Raunen und Gemurmel, Ausrufen des Erstaunens, lautem Geflüster und wilden
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