Das taube Herz
Stelle neben ihm, wo der Automat gestanden hatte, füllte sich nach und nach mit Tischen und Stühlen und Herrschaften, die sich dort niederließen. Montallier, der seine akustische Entdeckung noch niemandem mitgeteilt hatte, hörte seine neuen Nachbarn über die Tatsache spekulieren, dass Kempelen während des Spiels wiederholt in sein seltsames Kästchen gespäht hatte, welches er in den Händen hielt, so als steuerte er damit den Automaten, vielleicht über Magnetismus, vielleicht durch hauchdünne, unsichtbare Schnüre. Jemand erwiderte, dass dies nicht möglich sei und dass man sich wohl der Tatsache stellen müsse, einen ganz und gar echten denkenden und Schach spielenden Automaten gesehen zu haben. Nun wurden diese Ingredienzien nach Belieben kombiniert, und die Bewertung des Erfinders des Automaten schwankte zwischen einem Zauberkünstler, technischem Genie und Scharlatan. Nur eines kam nicht zur Sprache; denn niemand außer Montallier hatte im Lärm des Cafés gehört, dass der Türke sich am Ende des dreizehnten Zugs für einen sehr kurzen Augenblick ohne jegliches Geräusch der Uhrenmechanik bewegt hatte. Montallier verfügte über eine einzigartige, jedoch nicht beweisbare Information. Er hätte sie ausposaunen und sich mit der Theorie brüsten können, dass mit absoluter Sicherheit jemand in
der Puppe sitzen musste, der die Bewegungen der Arme und Finger steuerte. Denn weshalb konnte der Automat nur mit geschlossenen Türen spielen? Und weshalb öffnete Kempelen immer nur eine Tür auf einmal und schloss sie alle wieder, bevor er die Schublade aufzog? Der Türke war kein Automat, sondern ein simples Täuschungsmanöver, so wie sie täglich in ganz gewöhnlichen Schaubuden dargeboten wurden. Kempelen war kein Erfinder und kein Genie, sondern ein gemeiner, jedoch gewiefter Schausteller, der keine Kuriosität der Natur vorführte, sondern seine eigene, höchst kuriose, schwindlerische und menschenverachtende Konstruktion. Aber beweisen konnte Montallier seine Überzeugung nicht. Und statt sich in die wilden Spekulationen einzumischen und sich darin womöglich hoffnungslos zu verstricken, hörte er, amüsiert über die angestrengten Erklärungsversuche, noch eine ganze Weile schweigend zu.
3
Der Zufall wollte es, dass bei dem durch seine komplizierten Orgelbauten weithin bekannten Mechanikus Blaise Montallier zwei Wochen nach dem aufsehenerregenden Spiel Philidors gegen den Schachtürken ein Auftrag eintraf, der seinem Leben eine ganz neue und unerwartete Wendung verleihen sollte. Über verschlungene Wege gelangte ein Kurier aus dem Süden in Montalliers Haus und bat ihn im Namen des berühmt-berüchtigten Kochs Jean-Balthazar de Barillon und unter Anbietung eines stattlichen Honorars, nach Nizza zu reisen. Dem Sohn des Kochs waren die Finger der rechten Hand von einer Sau abgebissen worden. Montallier sollte seine Konstruktionskünste in den Dienst der Medizin stellen und dem Kind eine künstliche Hand bauen. Obwohl Montalliers Spezialgebiet der Bau von Blasbälgen, Flöten und Tastaturen war, nahm er gelegentlich solche mechanischen Herausforderungen an, und so hatte sich sein Talent im Bau von Prothesen also bis in den Süden Frankreichs herumgesprochen. Montallier, der sich wieder einmal in einem finanziellen Engpass befand, da er einige Objekte zur Prüfung ihres inneren Aufbaus angeschafft und seiner Sammlung einverleibt hatte, nahm an und reiste ab Richtung Süden.
Der Empfang in Nizza war kühl und erwartungsvoll. Für den erfolgverwöhnten Jean-Balthazar de Barillon war
die Verstümmelung der Hand seines Sohnes eine narzisstische Kränkung, die Verunstaltung eines Teils seines persönlichen Imperiums. Montallier wurde schnell klar, dass der Auftrag nur in einem Fiasko enden konnte, denn die Hand ersetzen oder gar wieder gesund machen, das konnte er nicht. Niemals würden die beweglichen Holzfinger den Erwartungen des Kochs entsprechen, niemals würde dieses arme Kind die verstümmelte Hand, die rechte obendrein, benutzen können wie eine gesunde. Die Kosten der Reise, die Verschiebung anderer Aufträge und der Zustand seiner aktuellen Kasse ließen Montallier allerdings keine andere Möglichkeit, als sich der Aufgabe mit bestem Wissen und Gewissen zu widmen. Sieben Tage und Nächte plante und baute er den Mechanismus der fünf Finger, einer Orgeltastatur ähnlich, verhandelte mit Kunstschreinern, Figurenschnitzern und Kunstschmieden, ließ sich das beste Leder liefern, arbeitete an Gipsabgüssen
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