Das taube Herz
der Hand des Kindes, goss Bleivorlagen, probte mit dem Kind die verschiedenen Bewegungsabläufe und hütete sich davor, dem Koch Barillon frühe Stadien seiner Konstruktion zu präsentieren. Es gelang ihm sogar, zwei Drittel des ausgehandelten Honorars ausbezahlt zu bekommen, bevor Barillon eine erste Version der künstlichen Hand zu Gesicht bekam.
Am Morgen des achten Tages, als Montallier beim Figurenschnitzer die letzten Teile des kleinen Fingers abholen wollte, wurde er Ohrenzeuge einer kleinen Unterhaltung zwischen dem Schnitzer und einem Kunden, einem Pfarrer, der, einen gekreuzigten Jesus ohne Kreuz unter dem Arm, das Atelier verlassend, von einem Schachspiel erzählte, einem besonderen, das er vor zwei Tagen mitverfolgt habe, und zwar da, wo so etwas noch nie gesehen worden war, im
Hospice de la Charité. Das Schachwunder, berichtete er, ein dürres, verschrecktes, unscheinbares Mädchen, spiele halb abwesend, halb hypnotisiert, so dass er den schweren Verdacht nicht loswerde, das arme Kind sei besessen und werde von des Teufels Hand geführt. Jedenfalls der Schnitzer, oder wer auch immer, dürfe sich gerne höchstpersönlich davon überzeugen, gelungen sei es noch niemandem, dieses Schachgenie zu schlagen. Der Pfarrer schloss mit einem langen Monolog über den Machtkampf zwischen Medizin und Kirche, den aufzugeben er nicht bereit sei. Warum mit Salben, Duschen und höchst zweifelhaften Praktiken behandeln, was seinen Ursprung nirgends anders als in der Störung der inneren, religiösen Haltung habe? Das Spiel mit dem Teufel könne Wunder wirken, das Schachwunder sei ja gerade ein exzellentes Beispiel dafür. Der zu zahlende Preis hingegen sei ebenso unbarmherzig hoch, daran könne auch die beste Medizin nichts ändern.
Drei Stunden später drängte Montallier sich durch die wartende Menschenmenge im Hospice, um ein Spiel der jungen, mysteriösen Schachkönigin mitverfolgen zu können. Was er sah, übertraf alle seine durch die Erzählung des Pfarrers geschürten Erwartungen. In dem speziell für das Spiel leer geräumten Raum standen zwei Holzkabinen mit einem Guckloch und einer Durchreiche. Davor die Menschenmenge, aufgehalten durch eine Balustrade. Vor den Kabinen saß je ein Spieler über ein Schachbrett gebeugt. Ein ganz in Weiß gekleideter Betreuer ging zwischen den Kabinen und den Spielern hin und her, kommentierte die Partien, verschwand hin und wieder hinter den Holzkabinen, wies die drängende Zuschauermenge zurecht und präsentierte nach jeder Partie ein dürres, zerzaustes
Mädchen, das verängstigt zu Boden starrte und sich sofort wieder hinter der Holzkulisse verbarg. Es war kaum zu glauben, dass dieses verschreckte, bleiche Mädchen eine Schachpartie um die andere gewann, ohne Zögern, ohne jeglichen gedanklichen Engpass.
Montallier schaffte es, sich bis zur Warteliste der Herausforderer vorzudrängen. Und was er schließlich nach einer Anzahlung von zwanzig Louis für das Spiel und zwanzig weiteren gezahlten Louis als Wette auf seinen Sieg erlebte, stellte jegliche Schacherfahrung, die er im Régence in Paris gesammelt hatte, in den Schatten. In weniger als fünfzehn Zügen befand er sich in einer ausweglosen Stellung, die ihm in Paris die letzte Achtung seiner Kollegen gekostet hätte. Hier aber kannte ihn niemand, und er konnte unbeschadet auf- und die vierzig Louis verloren geben, bevor es zum unausweichlichen Matt kommen sollte. Montalliers Interesse galt auch weniger dem Sieg gegen das erstaunliche Mädchen, als vielmehr dem Phänomen dieser kleinen, zierlichen Person, die mit ihrem Spiel und in ihrem Verhalten all jenes versammelte, was Montallier sich wenige Wochen zuvor in Paris ausgemalt hatte, um das Spiel des Schachautomaten des Barons von Kempelen zu erklären. Hier in Nizza hatte er nun plötzlich jemanden vor sich, den er sich in die Kiste eingebaut vorstellen konnte. Diese mageren, zerbrechlichen Glieder, die Schüchternheit, das Bedürfnis, durch eine Holzkonstruktion abgeschirmt von der Umgebung zu spielen, die Sicherheit in den Zügen, all das stimmte mit seinem Erklärungsversuch über die Funktionsweise des Schachtürken überein.
Montallier mischte sich unter die neugierigen Gaffer und beobachtete zwei weitere Spiele. Die Aufregung der
Leute führte regelmäßig zu Begeisterungsrufen, zu heftigen Debatten und zu kleinen Handgemengen, da der Raum nicht alle Schaulustigen aufnehmen konnte. Montallier mit seiner Leibesfülle hatte sich ganz nach vorn an die Balustrade
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