Das taube Herz
holte einen Satz roter und weißer, aus Elfenbein geschnitzter Schachfiguren heraus und stellte sie neben das Spielbrett. Nun öffnete er die beiden verbleibenden Türen an der Vorderseite des Automaten. Der zwei Drittel des Kastens einnehmende Raum war beinahe leer. Auch hier nahm Montallier stellvertretend für alle Gäste einen genaueren Augenschein und konnte sehen, dass der Raum mit dunklem Tuch ausgeschlagen war. Außer einigen kleineren Zahnrädern und zwei sich kreuzenden, an einen Quadranten erinnernde Messingstangen befanden sich in dem Raum nur ein rotes Kissen, ein hölzernes Kästchen und ein Brett mit goldenen Buchstaben. Kempelen holte die Gegenstände heraus und legte sie auf ein Tischchen neben dem Automaten. Dann begab er sich abermals hinter den Kasten, öffnete auch dort die Türen und bewies dem Publikum mittels der Kerze die freie Sicht durch den Innenraum des Automaten. Schließlich stellte Kempelen sich an die Seite der mannsgroßen Puppe, bat Montallier, sich etwas zurückzuziehen, und drehte die gesamte Konstruktion mit solchem Schwung herum, dass die offenen Türen klapperten und die Puppe dem Publikum schließlich den Rücken kehrte. Kempelen hob den Kaftan bis über den Kopf der Holzfigur hoch, legte zwei Türchen, eins
am Oberschenkel, ein zweites am Rücken, frei, öffnete sie und gab auch hier Einsicht in die dahinterliegende Mechanik. Montallier steckte seine Nase hinein und suchte nach Indizien, nach falschen Rädern und verdächtigen Drähten, spähte nach Körperteilen eines versteckten Menschen, nach irgendetwas, das ihn auf eine Fährte des Betrugs bringen konnte - vergeblich. Nun bat Kempelen das Publikum, sich Montallier anzuschließen und von der inneren Mechanik einen genaueren Augenschein zu nehmen, aber niemand außer dem speziell zu diesem Anlass geladenen Pfarrer folgte der Einladung. Danach befahl Kempelen dem Gehilfen, alle Türen wieder zu schließen, schlug den Kaftan herunter und drehte den Automaten so, dass der Türke dem Publikum spielbereit gegenübersaß.
Kempelen nahm der Puppe die Pfeife aus der Hand und platzierte das rote Kissen unter deren linkem Ellbogen, machte sich noch einmal im Innern des Automaten zu schaffen und stellte dann zwei Kandelaber mit je drei Kerzen zur Beleuchtung des Schachbretts auf den Kasten.
»Bevor die Partie beginnt«, verkündete der österreichische Konstrukteur mit erhobener Stimme, »soll der Automat zwei, drei Kunststücke vorführen!« Er nahm das rote Pferd, fuhr damit fahrig über das Spielbrett, deutete an, dass er zufällig ein Feld wähle, und stellte die Figur auf e5. Danach gab er seinem Gehilfen ein Zeichen.
Anthon zog einen Schlüssel aus der Tasche und hielt ihn demonstrativ in die Luft, damit ihn alle sehen konnten. Dann steckte er den Schlüssel in ein Loch an der Seite des Kastens und drehte ihn, so als zöge er eine große Spieluhr auf. Das knatternde Uhrwerksgeräusch ließ das Publikum aufhorchen. Gespannt starrten alle auf die nach
wie vor reglose Puppe hinter dem Holzkasten, niemand rührte sich. Es war, als hätten all die neugierigen Gäste im Café de la Régence auf einen Schlag aufgehört zu atmen. Dass diese hölzerne Puppe sich bewegen sollte, schien ein Ding der Unmöglichkeit, ein Spuk, dem die ganze Pariser Gesellschaft zum Opfer gefallen war. Aber dann begann ein Surren, Schnalzen und Klicken, gerade so, als setzte das Uhrwerk, das Kempelen vorgeführt hatte, zu einem Stundenschlag an. Der eben noch leblose, starre Türke bewegte nun leicht den Kopf, ließ seinen toten Blick über das Spielfeld gleiten und hob den linken Arm vom Kissen. Langsam näherte er seine hölzerne, bis in jedes Glied bewegliche Hand dem Springer, fasste ihn mit Daumen und Zeigefinger, hob ihn leicht an und setzte ihn den Spielregeln gehorchend einen Zug weiter wieder ab. Danach führte er eine ganze Reihe solcher Züge aus, bis der Springer wieder auf das Feld des Anfangs zurückgelangte.
»Das ist der Rösselsprung!«, rief ein Unbekannter aus dem Publikum, und mehrere Beobachter pflichteten ihm bei.
»Probieren Sie es aus, meine Damen und Herren«, verkündete Wolfgang von Kempelen nicht ohne Stolz, »setzen Sie den Springer auf ein Feld nach Ihrer Wahl, und der Automat besetzt in einer Abfolge von Springerzügen jedes Feld des Spielbretts genau einmal, um danach auf sein Ursprungsfeld zurückzugelangen. Kommen Sie, ich bitte Sie, legen Sie diese Steinchen auf die Felder, die der Automat bereits besetzt hat, Sie
Weitere Kostenlose Bücher