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Das taube Herz

Titel: Das taube Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urs Richle
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Spekulationen über den Ausgang dieser einzigartigen Partie, welche die modernste Technik am Genie eines Schachmeisters und damit an den stärksten Kräften des menschlichen Geistes maß. Die Frage, ob eine Maschine denken könne, war plötzlich nicht mehr nur eine gewagte Hypothese, war nun kein Hirngespinst eines verrückten Philosophen mehr, nein, die Maschine saß vor ihnen, aus Holz, Metall und anderen Stoffen gebaut, und spielte Schach.
    Der Orgelbauer Blaise Montallier, der die ganze Zeit nicht von seinem Platz gewichen war, lauschte den Geräuschen, die aus dem Kasten entwichen. Außer knarrenden Zahnrädern, rasselnden Ketten, einschnappenden Übersetzungen und quietschenden Riemen konnte er nichts
vernehmen. Dabei beobachtete er genau die Bewegungen der Puppe, das Nicken und Schwenken des Kopfes, das Anheben des Arms und die Bewegungen der hölzernen, mit Scharnieren und Gelenken versehenen Finger. Er beobachtete, wie der Türke die Figuren auf dem Brett hin und her schob, ohne dabei eine der anderen Figuren zu berühren oder gar umzuwerfen. Das Spiel selbst interessierte Montallier nicht. Philidor, der auf der anderen Seite des Automaten am separaten Tisch saß, nahm er gar nicht wahr. Was ihn interessierte, war die Mechanik, die Konstruktion, die Zusammensetzung der Wellen und Nocken und Räder, welche die Bewegung vom Federwerk bis zu den Fingerspitzen zu einem intelligenten Zug übersetzten. Die Geräusche, die Montallier hörte, begleiteten die Bewegungen der einzelnen Glieder in steter Regelmäßigkeit. Hin und wieder waren aber auch Geräusche zu hören, die zu keiner Bewegung führten, als berechnte der Automat seinen nächsten Zug, so wie Dardier und andere die Funktionsweise des Automaten erklärt hatten. Aber dann, beim dreizehnten Zug - Montallier hatte mitgezählt und sich Notizen gemacht -, setzte das Surren, das die Armbewegung bisher immer begleitet hatte, plötzlich aus. Montallier rechnete nun ganz automatisch damit, dass der Arm ebenfalls stehen bleibe, um darauf zu warten, dass der Gehilfe Anthon seinen Schlüssel aus der Tasche ziehe, ihn in den Kasten stecke und die Feder neu spanne. Aber statt stehen zu bleiben, fuhr der Arm weiter über das Brett, ließ die Hand niedersinken, die Finger schnappten den Läufer, hoben ihn hoch und setzten ihn an anderer Stelle wieder ab. Kaum hatte sich der Arm auf das Kissen zurückversetzt, sprang Anthon heran und zog den Automaten von Neuem auf.

    Die Mechanik des Automaten war ans Ende der Kräfte gelangt und stehen geblieben, aber die Puppe hatte sich für einen Zug einfach weiterbewegt. Außer Montallier war das Fehlen des Geräusches der Mechanik im Raunen und Gemurmel niemandem aufgefallen. Montallier rückte näher an den Kasten, um die Abfolge der Geräusche besser hören zu können. Er hatte seinen Kopf so tief hinunter an die Wand des Kastens gereckt, dass er den Ablauf der Partie nun gar nicht mehr mitverfolgen konnte. Aber während aller folgenden Züge konnte Montallier die Absenz des Surrens nicht mehr ausmachen. Alles schnurrte, surrte und klapperte treu den Gesten und Bewegungen entlang, die der Türke über dem Kasten ausführte.
    Plötzlich hörte Montallier laute Rufe, Schreie beinahe, dann Jubeln und Applaus. »Philidor!«, schrien die einen. »Grossartig!« die anderen. Philidor hatte gewonnen, aber die Anstrengung, die ihn dieses Spiel gekostet hatte, stand ihm ins bleiche Gesicht geschrieben. Stumm schüttelte er Kempelen, der ihm stellvertretend für den Türken gratulierte, die Hand. Noch immer würdigte Philidor den Automaten keines Blicks. Gegen eine Maschine gespielt zu haben war ihm offensichtlich nicht geheuer. Und er schien nicht bereit, das Spiel zu wiederholen. Er hatte gewonnen. Er hatte dem sensationshungrigen Publikum bewiesen, dass die Technik die menschliche Intelligenz nicht besiegen konnte, und damit war die Sache für ihn erledigt. Kommentarlos verließ er das Café. Kempelen bedankte sich beim Publikum, erntete Applaus und Gratulationen, dann schob er mit seinem Gehilfen den Automaten zur Tür hinaus.

    Nun entwickelte sich ein tosender Lärm im Café. Stühle und Tische wurden, wie eben gerade die Schachfiguren auf dem Spielbrett, hin und her geschoben, die wildesten, wirrsten und intelligentesten Spekulationen über die Funktionsweise des Automaten tobten los, verhöhnende und bewundernde Kommentare zum Spiel der beiden außergewöhnlichen Spieler. Nur Montallier saß noch immer ratlos auf seinem Stuhl. Die

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