Das taube Herz
und die Konstruktion von Blasinstrumenten durch, eines jener Bücher, die sein Kerkermeister Blaise Montallier hier unten in seiner geheimen Kellerwerkstatt stapelweise aufbewahrte. Seit achtzehn Tagen und sieben Stunden hatte Jean-Louis kein Tageslicht mehr gesehen. Das zeigte die kleine Wanduhr an, die er mit ein paar Rädern und einem Gewichtsantrieb gebaut hatte, um in diesem lichtlosen Keller die Orientierung in der Zeit nicht zu verlieren. Abgeschottet vom Wechsel der Tageszeiten bewegte er sich fünf Meter unter dem Pariser Boden durch diese ausgekachelten, blank geputzten, von beweglichen Puppen, krächzenden Mechanismen, intakten und ausrangierten Automaten vollgestellten Räume und wartete alle zwölf Stunden auf das Rasseln der Schlüssel, das Knarren des Schlosses, um etwas Suppe, Brot und Wasser in Empfang zu nehmen, die immer gleichen Speisen, die ihm Montallier persönlich in sein Verlies herunterbrachte, wenn er kam, um den stinkenden Latrinenkübel gegen einen sauberen auszuwechseln. Dabei sagte der große, finstere Mann kein Wort, schaute Jean-Louis nicht einmal an, erkundigte sich auch nicht danach, wie weit er mit
seinen Arbeiten vorangeschritten sei, sondern blieb an der nur halb geöffneten Tür stehen, stellte das Tablett mit der Mahlzeit auf den kleinen Tisch an der Wand und nahm das schmutzige Geschirr vom Vortag mit. Der Auftrag, einmal ausgesprochen und dargelegt, wurde nicht noch einmal verhandelt, Diskussionen darüber wurden keine geführt. Jean-Louis wusste, was er zu tun hatte, die Mittel, die ihm in den verzweigten Kellerräumen zur Verfügung standen, mussten ausreichen.
»Bau alles auseinander, wenn du es für nötig erachtest, verwende alles, was du hier findest, das ganze Arsenal steht dir zur Verfügung, vorausgesetzt, du lieferst, was ich von dir verlange«, hatte Montallier noch gesagt, bevor er die schwere Eichentür hinter sich zugezogen und den Schlüssel gedreht hatte. Zuvor hatte Montallier Jean-Louis die Vorstellung des Schachtürken im Café de la Régence ausführlich geschildert und den Automaten bis ins letzte Detail beschrieben. Er hatte Skizzen und Pläne geliefert und Jean-Louis gebeten, diese zu ergänzen, sie nach möglichen und unmöglichen Mechanismen durchzudenken. Was Montallier imaginär in einem feurigen Redefluss konstruiert hatte, sollte Jean-Louis in Stichworten und kleinen Skizzen festhalten, um sie später auszuarbeiten. Die einzelnen Schritte des Täuschungsmanövers, welches der Scharlatan Wolfgang von Kempelen veranstaltete, sollten in genauer Kopie nachgebaut, herausgefordert, und er sollte mit seinen eigenen Waffen ruhmreich geschlagen und skandalös kompromittiert werden. Französische Raffinesse und jurassische Präzision würden den österreichischen Schachautomaten zu dem machen, was er in Wirklichkeit war: ein simpler Schaubudentrick, der Wissenschaftler und
Hofleute aus ganz Europa zum Narren hielt. Derjenige, der die Intelligenz einer ganzen Generation lächerlich machte, sollte nun selbst lächerlich gemacht werden. Um dies zu erreichen und den dadurch doppelt und dreifach frei werdenden Ruhm zu ernten, schien Montallier zu allem fähig und sogar willens, sein ganzes Vermögen, welches er in den Kellerräumen seines Hauses in einer Automatensammlung vereint hatte, zu opfern. Ausgerechnet er, Jean-Louis Sovary, der Büchernarr und Autodidakt aus dem verlorenen jurassischen Kaff Le Locle, der Kopierer und Fälscher berühmter Mechaniker, dieser Uhrmacher ohne Papier, ohne Ausbildung und ohne Namen war also auserkoren, Montalliers wahnwitzigen Plan umzusetzen und einen Automaten zu bauen, der sich nicht nur der modernsten Mechanik, den neuesten Techniken der Hydraulik und des Magnetismus für die Bewegungen bediente, sondern obendrein auch noch ein menschliches Hirn in Anspruch nehmen sollte, nämlich dasjenige einer kranken, verstörten, halb lebenden, halb toten, zum Tier gewordenen jungen Frau.
Den Schlüssel zum Kerker, in welchem Ana de la Tour seit mehr als vier Monaten eingesperrt war, hatte Jean-Louis in seiner Tasche. Er hielt die Tür zwar geschlossen, aber verriegelt hatte er sie nicht. Wie die Vorführung des Schachtürken hatte ihm Montallier auch die Turniere, die Ana im Hospice in Nizza parallel gespielt hatte, aufs Ausführlichste geschildert. Der Mangel an Licht und Hygiene und die Kälte in dem Kellerloch hatten an Ana jedoch nichts von der angeblich so beeindruckenden, außergewöhnlichen Spielkunst übrig gelassen.
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