Das taube Herz
gedrängt und beobachtete jede Bewegung, jede Geste der Spieler, der Aufseher und der in der Öffnung an den Holzkästen hin und wieder flüchtig zu sehenden Hand des Mädchens. Er erreichte es sogar, die Spielkästen von innen untersuchen zu dürfen, sie nach Hohlräumen, versteckten Seilvorrichtungen, akustischen Rohrverbindungen und anderen möglichen Tricks abzusuchen. So sicher er sich bei Kempelens Schachtürken über den Schwindel war, so überzeugt war er nun hier, Zeuge eines durch und durch realen, außergewöhnlichen Schachgenies geworden zu sein. Die Holzkonstruktion diente nicht zur Tarnung eines versteckten Tricks, die Inszenierung war kein Täuschungsmanöver wie bei Kempelen. Die äußerst sensible Persönlichkeit dieses Mädchens verlangte und erzeugte ein Prozedere, das an billige Schaubudentricks erinnern konnte, in Wahrheit aber das wirkliche Spiel erst ermöglichte. Montallier versuchte sich mit dem seltsamen Mädchen zu unterhalten, mit ihr Kontakt aufzunehmen. Aber ein ganz in Weiß gekleideter Herr, der sich als der zuständige Arzt vorstellte, schaltete sich dazwischen.
»Es würde Tage und Wochen dauern, bis sie mit dem Mädchen reden könnten. Tut mir leid, aber wir müssen Ana vor zu viel Aufregung in Schutz nehmen. Ich bitte Sie also, halten Sie sich an die Regeln wie alle anderen Personen hier, die sich über dieses außergewöhnliche Phänomen erkundigen möchten.«
»Und wie erklären Sie sich die Tatsache, dass ein so verschüchtertes
und, ich nehme an, ungebildetes Mädchen das Schachspiel auf so unschlagbare Weise beherrscht?«
»Es kann sein, dass wir es hier mit einer sehr seltenen Form von übersinnlicher Intelligenz zu tun haben. Wir wissen es nicht. Vielleicht arbeitet Ana mit Visionen, vielleicht auch nur mit Intuition. Allerdings wissen wir nicht, was sie in ihrer Vergangenheit erlebt hat. Vielleicht hat ihr jemand das Schachspiel ganz einfach beigebracht?«
So fachsimpelte der Arzt noch eine Weile weiter, ohne irgendetwas Interessanteres zu bieten als die debattierenden und streitenden Schaulustigen. Denn in Wahrheit hatte niemand irgendeine Ahnung, weshalb Ana das Schachspiel auf diese Weise beherrschte, jegliche andere Form der Kommunikation jedoch verweigerte und sich lieber in eine Holzkiste einkerkerte, statt sich mit anderen Menschen zu unterhalten.
Für Montallier war dieses Ereignis Öl ins Feuer seiner Konstruktions- und Erfindungsphantasien, die nach dem Besuch im Hospice unzähmbar loderten und Ideen und Pläne entzündeten, zu deren Umsetzung Montallier sich so verpflichtet fühlte wie ein Prophet zur Verbreitung seiner Botschaft. Die Wissenschaft, ja die ganze Welt, verdiente über die wahren Hintergründe von Phänomenen und Ereignissen aufgeklärt zu werden. Und wenn die verantwortlichen Konstrukteure und Erfinder des Schach spielenden Automaten aus Österreich den zugrunde liegenden Mechanismen und die tatsächliche Funktionsweise der Kiste, die sie als Maschine ausgaben, nicht selbst offenlegen wollten, dann blieb nur eins: sie mit ihren eigenen Waffen zu schlagen, um den Betrug zu entlarven.
Blaise Montallier aus Calais, Orgelbauer und Automatensammler in Paris, Schachspieler dritten Ranges im Café de la Régence, führte seinen Auftrag aus und baute die letzten Glieder, die letzten Federn und Übersetzungen in die künstliche Hand von Jean-Balthazar de Barillon dem Jüngeren ein, ohne das vernichtende Verdikt des Älteren abzuwarten, und machte sich auf, die größte Betrügerei auf dem Gebiet der mechanischen Erfindungen herauszufordern und der Öffentlichkeit preiszugeben.
Die Anzahlung des Kochs Barillon für die künstlichen Finger seines Sohnes reichte nicht nur aus, um ein zusätzliches Gespann mitsamt Kutscher für die Rückreise zu erwerben, sondern auch um die Nachtwache des Hospice de la Charité unter absurden Vorwänden für sein Vorhaben zu gewinnen, unbemerkt in das Schlafgemach der Kranken einzudringen, das Schachgenie Ana de la Tour aus einer ihrer im Wahn gespielten Partien herauszureißen, sie in einen Jutesack geschnürt auf die speziell hergerichtete Liege in der Kutsche zu binden und mit ihr mitten in der Nacht bei Mondschein quer durch das verschlafene Nizza, fort über Stock und Stein Richtung Norden zu fahren.
VIERTER TEIL
1
Jean-Louis Sovary saß an einem großen Arbeitstisch, den er sich im hinteren Teil von Montalliers Keller eingerichtet hatte, und blätterte ein Buch über verschiedene Holzarten, deren Behandlung
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