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Das taube Herz

Titel: Das taube Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urs Richle
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Jean-Louis legte regelmäßig die Hälfte seiner Mahlzeit in die Mitte ihres
Raums, ohne seine Schicksalsgefährtin je zu Gesicht zu bekommen. Die leer getrunkene Suppenschüssel und das Verschwinden der Brotstücke waren die einzigen Zeichen dafür, dass Ana lebte. Sie verkroch sich nach wie vor unter dem schütteren Stroh, wenn er den Raum betrat. Schon am dritten Tag legte Jean-Louis das Schachspiel, welches Montallier ihm dagelassen hatte, neben das Essen und stellte die Figuren in der Grundstellung auf. So blieb das Spiel mehrere Tage stehen, ohne dass Ana eine Figur auf dem Brett berührte. Jean-Louis wagte es schließlich, den ersten Zug mit einem Bauern auszuführen, aber auch das ohne Erfolg, Ana reagierte nicht.
    Die erste Zeit seiner Gefangenschaft verbrachte Jean-Louis damit, sich durch Montalliers Bibliothek zu arbeiten. Lehrbücher über Mechanik, Mathematik, Geometrie, Physik, Tafeln und Nachschlagewerke zur Holz-, Metallund Keramikverarbeitung, Lehrgänge der Schreinerei, Schneiderei, Sattlerei, der Schnitzerei, Tischlerei und viele historische und kulturgeschichtliche Abrisse zum Instrumenten- und zum Orgelbau im Speziellen füllten im ersten Raum des Kellers Regale und bildeten hohe Türme. In vielen Büchern steckten kleine Zettel mit unleserlichen Notizen, in einigen waren Zeilen unterstrichen oder am Rand angezeichnet. Ein System, nach dem Montallier die Bücher geordnet hätte, konnte Jean-Louis nicht erkennen. Alles schien kreuz und quer durcheinandergeworfen, jeder Stapel enthielt Bücher aus verschiedensten Gebieten. Weder alphabetisch noch thematisch war eine Ordnung auszumachen. Jean-Louis verschlang alles, was ihm für den Auftrag nützlich erschien, überflog unwichtige Kapitel und Inhalte, die ihm aus der Lektüre von Paul Irmigers
Notizen bei Maître Falquet bereits bekannt waren. Unter den vielen Lehrbüchern zu verschiedenen konkreten Themen der Konstruktion und des Automatenbaus, in denen Jean-Louis einige neue Erkenntnisse gewinnen konnte, befanden sich auch theoretische und philosophische Bücher und Abhandlungen, die meisten in Latein geschrieben. Einige von ihnen waren ihm aus der Zeit im Jesuitenkolleg noch bekannt. So begegnete er griechischen und römischen Dichtern wieder, las zwei Kapitel aus Descartes’ Principia philosophiae und De homine , las Abschnitte aus Bacons Novum Organum im englischen Original, begegnete der Philosophie Pascals und seiner Pascaline wieder, der ersten Maschine, die rechnen konnte. Montallier hatte die Pascaline ausführlich dokumentiert, und in einem der Schränke des dritten Kellerraums fand Jean-Louis sogar einen solchen Apparat, eine aufgrund von Skizzen, Plänen und Beschreibungen treu nachgebaute Kopie, die imstande war, Additionen und Subtraktionen auszuführen. Daneben fand Jean-Louis auch Pläne und Skizzen zu anderen Rechenmaschinen, die mit unterschiedlichen Mechanismen arbeiteten. Entweder wurde die Anzahl von Sprossen an Zahnrädern veränderbar gemacht, oder einzelne Zahnräder wurden für einzelne Zahlen in entsprechend lange Segmente unterteilt. Eine solche Maschine hatte Montallier ebenfalls in seiner Sammlung, offenbar ein Original, denn sie trug die Inschrift »Braun invenit, Vayringe fecit.« Die Skizzen und Pläne stammten von Jacob Leupold. Jean-Louis fand sie in der von diesem deutschen Mechaniker herausgegebenen Enzyklopädie Theatrum Aritmetico Geometricum . Gebaut hatte sie dann allerdings Antonius Braun für den Wiener Hof, und dort, so hatte es Montallier
in den Unterlagen zu der Maschine notiert, soll sie der ehemalige Schlosser aus Nancy, Uhrmacher, Erbauer von hydraulischen Wasserspielen, geometrischen und astronomischen Instrumenten aus Passion und spätere Professor für Physik, selbst repariert haben. Wie das Original dieser Maschine in Montalliers Sammlung gekommen war, hatte er nicht notiert. Überhaupt fehlten jegliche Hinweise auf Herkunft und Anschaffungsbelege für alle Automaten, Maschinen und Instrumente, die Montallier in dem weitläufigen Verlies unter seinem Haus angesammelt hatte; als handle es sich um eine geheime Mission, um verbotene Objekte und Einzelstücke, deren Geschichte weitgehend ausgelöscht werden sollte, um nichts anderes als deren innere Gestalt, Zusammensetzung und Bauart gelten zu lassen.
    Neben diesen technischen Errungenschaften begegneten Jean-Louis zwei Bücher, von denen er gehört, die er jedoch noch nie zu Gesicht bekommen hatte, denn sie waren in Paris und in anderen Städten

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