Das taube Herz
reagierte nun auf jeden seiner Züge augenblicklich und mit zunehmendem Vertrauen. Das Spiel entwickelte sich zum Reigen, zu einem Gespräch in der Gebärdensprache des Schachspiels. Es kam vor, dass Ana ihre weißen Läufer und Springer und Türme so arrangierte, dass sie Jean-Louis’ schwarze Dame in einer Audienz vor dem König empfangen konnten. Dann wiederum fuhr Ana alle Figuren nach seiner Seite aus, so dass Weiß Schwarz durchdrang und umschlang, als umarmten sich zwei Völker. Die Königspaare gingen in dem durch vierundsechzig Felder geteilten Reich gemeinsam auf Wanderschaft, Bauern und Läufer leisteten sich Gesellschaft, Türme folgten sich auf Erkundungsgängen, und die Springer boten sich kleine Turniere. Jean-Louis schloss nun die Tür nicht mehr ab, wenn er ihren Raum verließ. Das plötzliche Fehlen des Schlüsselrasselns schien Ana zu irritieren, denn sie rückte die Figuren nicht mehr um, und es dauerte eine Ewigkeit, bis Ana in einem plötzlichen Wutanfall das Spiel umwarf. Jean-Louis stellte die Figuren in die Grundstellung und eröffnete mit demselben Zug, den Ana zu Beginn des Spiels gewählt hatte, und schon bald spielten sie wieder im gleichen zügigen Rhythmus weiter.
In einem zweiten Schritt ließ Jean-Louis die Tür nun einen Spalt breit offen, was wiederum zu einem spielfreien
Tag, zu erneutem Warten und zögerlichen Neuanfängen führte. Aber kaum hatte sich Ana an die neue Situation gewöhnt, forderte sie Jean-Louis mit immer schneller aufeinanderfolgenden Zügen heraus. Neben den Notizen, die Jean-Louis sich zu den technischen Herausforderungen seiner Aufgabe machte, legte er sich ein zusätzliches Heft zur Protokollierung der Kontaktaufnahme mit Ana an. Nach genau achtundzwanzig Tagen, notierte er in seinem Heft, überschritt Ana die Grenzen des Kommunikationsraums des Schachspiels und klopfte an die Tür. Er hatte sie zu lange auf seinen Gegenzug warten lassen, er sollte sich also beeilen. Dieser Geste folgte Jean-Louis sofort, und Ana reagierte darauf mit derselben Selbstverständlichkeit, mit der sie inzwischen Schach spielte. Noch hatte keine Figur eine anderer geschlagen, noch spielten sie das Beschnupperungsspiel anstelle des strategischen Kriegsspiels, aber den Kombinationen und Möglichkeiten dieser unausgesprochenen Spielregeln waren keine Grenzen gesetzt.
Am neunundvierzigsten Tag seiner Gefangenschaft bekam Jean-Louis Ana zum ersten Mal zu Gesicht. Aufrecht saß sie neben dem Spielbrett am Boden, den Blick Hilfe suchend an den Figuren haftend. Jean-Louis betrat den Raum mit größtmöglicher Behutsamkeit; sie rührte sich nicht. In übertriebener Langsamkeit näherte er sich ihr, überzeugt, die Grenzen des Möglichen weit überschritten zu haben. Er setzte sich neben sie, und so spielten sie zwei Stunden lang. Plötzlich schreckte Ana auf und verkroch sich in ihrer Ecke, bedeckte sich mit Stroh. Montallier hatte den Schlüssel im Schloss gedreht.
2
Mehrere Tage dauerte es, bis Ana sich aus ihrem Versteck wieder hervortraute. Behutsam und mit aller Vorsicht baute Jean-Louis den Kontakt zu ihr erneut auf. Diesmal spielten sie nicht miteinander, sondern führten strategische Kriege. Ana gewann eine Partie nach der anderen und schien niemals genug zu bekommen. Kaum hatte sie ihn geschlagen, stellte sie die Figuren in Windeseile wieder auf und machte auch gleich den ersten Zug. Sie spielte durchweg Weiß, und Jean-Louis fragte sich, ob die Farbe für Ana eine Rolle spiele, ob sie gar eine Bedingung ihres offensichtlichen Schachgenies darstelle, die Montallier vielleicht entgangen war und dessen Plan des Aufdeckungsmanövers unmöglich machte. Ein Schachautomat, der nur mit Weiß spielen konnte, das war nur ein halber Automat, ein halbes Kunststück, eine halbe technische Errungenschaft, welche die konzeptionellen Schwächen auch mit dem besten Spiel nicht aufzuholen vermochte. Kempelens Schachtürke würde dadurch geradezu bestärkt und in seiner Stellung des mechanischen Wunders gefestigt. Der Schwindel des Österreichers konnte nur über den bedingungslosen Sieg im Spiel aufgedeckt werden. War der Automat mit dessen eigenen Mitteln erst einmal geschlagen, würde auch der Rest aufgedeckt und öffentlich demontiert werden können. Und dazu musste
Jean-Louis einen Automaten bauen, der Schach nach allen Regeln des Spiels, der Strategie und der zur Verfügung stehenden Techniken vollständig beherrschte.
Aber mit der Arbeit am Automaten kam Jean-Louis nur langsam voran.
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