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Das taube Herz

Titel: Das taube Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urs Richle
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Mehrere Probleme stellten sich ihm. Viele Einzelteile musste er selbst herstellen, und manch wichtiges Werkzeug fehlte ihm. Die Kombination des Zimbals mit dem Schach erwies sich schwieriger als geplant, da die Musikstücke vollständig automatisch von einer Walze auf die beweglichen Arme der Puppe übertragen, die Bewegungen für das Verschieben der Schachfiguren hingegen durch eine mechanische Übersetzung aus dem Kasten auf das Spielbrett geleitet werden sollten. Zudem musste Jean-Louis einen Mechanismus finden, der es erlaubte, einen Menschen, wenn auch eine zierliche und schlanke Person wie Ana, im unteren, die Mechanik beinhaltenden Kasten des Automaten so unterzubringen, dass das Räderwerk durch das Aufziehen verschiedener Schubladen und Türchen offengelegt werden, die Person jedoch verborgen bleiben konnte. Montallier hatte ihm diesbezüglich genaue Angaben gemacht und Pläne ausgehändigt, die er nach dem Vorbild des Österreichers Wolfgang von Kempelen und seines Schachautomaten gezeichnet hatte. Aber es blieben hypothetische Skizzen, Angaben darüber, wie Montallier sich den Schwindel des Kempelen’schen Schachautomaten vorstellte. Dass der österreichische Erfinder seinen Automaten auch tatsächlich auf diese Weise gebaut hatte, war mehr als zweifelhaft.
    Jean-Louis blieb nichts anderes übrig, als sich auf seinen eigenen Einfallsreichtum zu verlassen und selbst Lösungen für das Problem zu finden. Tage und Nächte zeichnete und
berechnete, skizzierte und testete er Schienen-, Klappund Hebelbewegungen, Übersetzungen und Gelenke, arbeitete mit Drehmomenten, Hemmungen, Gesperren und Schnappverschlüssen. Jean-Louis, der sich all die Jahre mit den unterschiedlichsten Uhrwerken beschäftigt hatte, machte sich an diese Aufgabe wie an alle früheren Herausforderungen. Der ganze geplante Automat war nichts anderes als eine überdimensionierte Uhr, eine spezielle, einzigartige Komplikation, deren Kapazitäten weit über die üblichen Uhrenkomplikationen hinausreichten. Der menschliche Körper, das Gehäuse des intelligenten, die Maschine steuernden Gehirns konnte in diesem Kontext nicht anders begriffen werden als alle anderen Komponenten der gesamten Konstruktion.
    Nach und nach erfand Jean-Louis die spitzfindigsten Mechanismen, die es erlaubten, einen menschlichen Körper unbemerkt mitten in einem funktionierenden Räderwerk zu platzieren, während von außen, kommentiert und vorgeführt durch einen Präsentator, eine um die andere Schublade, mehrere Türchen und Klappen geöffnet und wieder geschlossen werden konnten, ohne dass ein unvoreingenommener Beobachter auch nur den geringsten Verdacht schöpfte, dass in dem komplizierten, fest verankerten Mechanismus auch noch ein Mensch versteckt sein könnte. Im Gegenteil, die Vorführung der inneren Konstruktion des Automaten ließ gerade auf die Unmöglichkeit eines solchen Tricks schließen, eine Reaktion, die Kempelens Schachtürke bei seinem Publikum offenbar hervorrief. Diesen Schaubudentrick ging Jean-Louis als Konstrukteur, als Mechaniker, als Uhrmacher und als Erfinder von Grund auf und in seiner ganz persönlichen Art und Weise an und
gab ihm damit eine neue Dimension. Was Montallier dem österreichischen Betrüger als biederen Trick und simple Täuschung vorwarf, wurde bei Jean-Louis zu einer mechanischen Raffinesse, zu einer technischen Errungenschaft des Automatenbaus, zu einem Kunstwerk an Präzision und Erfindungsreichtum der Uhrmacherei.
    Königin Marie Antoinette, die Holzpuppe mit dem echten Haar, dem echten Kleid, den bis in die Fingerspitzen beweglichen Gliedern, dem Porzellangesicht und den funkelnden Glasaugen, diese schillernde Nachbildung einer Frau, die Montallier ihm als Grundausrüstung zur Verfügung gestellt hatte, saß auf einem Holzkasten, der die wundersame Mechanik beherbergte. Vor ihr befand sich das Zimbal, eine Art Zither auf Beinen. In den Händen hielt die Puppe kleine Hämmerchen, mit denen sie, der Kodierung auf der Messingwalze folgend, Melodien auf die gespannten Metallsaiten schlug. Die Umsetzung der Miniaturvorlage der Zimbalspielerin in Lebensgröße war für Jean-Louis ein technisches Kinderspiel. Schwieriger wurde die Verwandlung des Saiteninstruments in ein Schachbrett, das, einmal über die Saiten geklappt, nicht nur die Felder anzeigte und die Figuren beherbergte, sondern das Spiel auf die Unterseite und davon ausgehend in den Innenraum übersetzen musste, und zwar auf eine Weise, die es Ana ermöglichen sollte,

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