Das taube Herz
verboten und öffentlich verbrannt worden. L’homme machine hieß das eine, Discours sur le bonheur das andere. Beide Bücher waren anonym herausgegeben worden. Neben dem angegebenen Druckort und Verlag hatte Montallier mit Bleistift »fiktiv« notiert. Über den Schmutztitel hatte er mit Tinte »Julien Offray de la Mettrie« geschrieben, offensichtlich der Name des Autors, der sich hinter dem Anonymus verbarg, ein Name, den Jean-Louis nur vom Hörensagen und durch die Erzählungen rund um das Verbieten und Verbrennen seiner Bücher kannte. Nun saß er hier über diesen von Kirche und Adel unterdrückten Texten und las sich durch eine Philosophie, die ihm weder gefährlich
noch fremd erschien. Dass man den menschlichen Körper als Maschine begreifen und ihn nach allen Bestandteilen und Funktionsweisen bis in das innerste Detail erforschen und studieren konnte wie einen Apparat, das schien ihm geradezu offensichtlich. Auch dass man den gesamten menschlichen Bewegungsapparat und obendrein logische Abläufe wie diejenigen einer komplizierten Uhr oder gar einer strengen kognitiven Schlussfolgerung nachbauen können sollte, war für Jean-Louis nachvollziehbar und überzeugend. Aber wie er aus Eisen, Holz und Baumwollfäden eine Seele bauen sollte, das blieb ihm ein Rätsel. Sollten ihm auch die gesamten Stoffe dieser Erde zur Verfügung stehen, an alchemistische Experimente glaubte er so wenig wie dieser La Mettrie. Und weder die einen noch der andere waren ihm in dieser Stunde eine Hilfe.
Am Morgen des einundzwanzigsten Tages, nachdem Jean-Louis Ana mit mehreren Eröffnungszügen vergeblich herausgefordert und jegliche Hoffnung aufgegeben hatte, entdeckte er bei seiner täglichen Visite in Anas Kerker, dass sie auf dem Schachbrett einen Bauern um ein Feld vorgeschoben hatte. Sie hatte Weiß gewählt und den Bauern von b2 auf b3 vorgeschoben. Eine ungewöhnliche Geste, da die Bauern beim ersten Zug zwei Felder vorrücken dürfen. Ana hatte es jedoch bevorzugt, nur um ein Feld vorzurücken, so als streckte sie zögerlich einen Arm aus, um von ihrem Versteck aus mit der Umwelt Kontakt aufzunehmen und die Reaktion ihres Gegenübers zu testen. Jean-Louis erwiderte ihre schüchterne Regung, indem er spiegelverkehrt den gleichen Zug ausführte, in der Hoffnung, Ana verstehe diese Geste als Gruß und Erwiderung
der vorsichtigen Kontaktaufnahme. Leise schloß er die Tür zu ihrem Raum, und die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Bereits am späteren Nachmittag hatte Ana in Jean-Louis’ Abwesenheit einen zweiten Bauern nach vorne verschoben, wiederum nur um ein Feld, was Jean-Louis augenblicklich erwiderte. Am nächsten Tag folgte eine ganze Serie von Zügen, die mehr einem gegenseitigen Abtasten als einem Schachspiel glichen. Und jedes Mal mußte Jean-Louis den Raum verlassen und die Tür hinter sich zuziehen, damit Ana den nächsten Zug machen konnte.
Jean-Louis war kein guter Schachspieler. Er hatte im Jesuitenkolleg manchmal gegen Kommilitonen gespielt, aber die Konzentration auf Strategie ohne Aussichten auf weitere Ergebnisse außer der Niederlage des Gegners, ohne jegliches konstruktive Ziel, ohne jegliche Perspektive auf Anwendung und Nutzen der geleisteten geistigen Arbeit langweilte ihn schnell, so wie ihn jegliche andere Art von Spiel ebenfalls langweilte. Er brauchte ein Produkt, einen zu entwickelnden Gegenstand, einen absehbaren Nutzen, um seinen Geist in Euphorie und anhaltender Spannung zu halten. Der kühle Selbstzweck des Spiels im Allgemeinen und des Schachspiels im Speziellen ließ seine Begeisterung für diese geistigen Übungen schnell erlahmen. Aber er hatte ausreichend Erfahrung, um zu erkennen, dass Ana in diesen ersten Momenten des Spiels ein ungewöhnliches Ziel verfolgte. Zögerlich näherte sie sich mit dem Läufer, der Dame oder mit dem Springer einer seiner Figuren, ohne diese zu schlagen. Sie setzte den Turm oder gar die Dame den gefährlichsten Situationen aus, als wollte sie testen, wie Jean-Louis darauf reagierte. So spielten sie drei Tage lang, ohne dass auch nur eine Figur
vom Feld geschlagen wurde. Nach und nach erprobten sie Stellungen, kreierten Kompositionen und Eröffnungen, die in ihrer Abfolge eher einem gesellschaftlichen Tanz entsprachen als einem strategischen Spiel. Noch musste Jean-Louis für jeden Zug seiner Mitspielerin, wie er seine Gegnerin für sich selbst nannte, den Raum verlassen und die Tür abschließen. Noch hatte er Ana nicht zu Gesicht bekommen, aber sie
Weitere Kostenlose Bücher