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Das taube Herz

Titel: Das taube Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urs Richle
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fortfahre und sie liebkose, wie es in ihrem ganzen Leben noch nie jemand getan hatte, wie sie es noch nie bei irgendjemandem zugelassen hatte. Jean-Louis folgte ihrer Einladung und strich mit seinen feuchten, seifigen Händen über ihren Hals, über die kleinen spitzen Brüste, über die Wellen der hervortretenden Rippen. Unter seinen Händen entfaltete sich und erblühte eine Landschaft, ein Topographie des Staunens, die Schrecken und Glück auf eine seltsame Weise vereinte zu einem Klangraum, in dem Vergangenheit und Gegenwart sich aufhoben zugunsten einer nie zuvor erlebten Leichtigkeit des Augenblicks. Minuten erschienen wie Stunden, Sekunden wie Jahre, die Gegenwart war ewig, bis Jean-Louis bemerkte, dass Ana am ganzen Leib zitterte. Sie weinte. Und auch Jean-Louis’ Hände zitterten. Er nahm nun einen Lappen und wischte damit die Seife von ihrem Körper, holte die Tücher und hüllte sie in die sauberen Stoffe. Ana setzte sich und weinte heftiger. Wie ein Orkan brach es aus ihr heraus. Jean-Louis versuchte, sie schützend in die Arme zu schließen, und spürte im selben Augenblick, wie diese Geste, im Vergleich zu ihrem verloren gegangenen Stoffpanzer, ein lächerlicher, ein nichtiger Schutz war.
    Da sie sich nicht beruhigen wollte, führte er Ana zur Liegepritsche, auf das mit Stofffetzen bedeckte Stroh, legte sie nieder und sich daneben, bedeckte ihre beiden Köper
mit der einzigen dünnen Decke, die sie besaßen. Jean-Louis spürte, wie sie sich sofort an seinen Rücken schmiegte, ihre dünnen Arme um seine Brust schlang. Er spürte ihre feine, warme Haut, die leisen, unrhythmischen Bewegungen des Weinkrampfes, den sie vergeblich zu unterdrücken suchte, spürte ihre Verletzlichkeit, die sich über die Nacktheit mit der seinen vereinte. Vorsichtig drehte er sich um, suchte und fand ihren Mund und küsste und umschlang sie, zum ersten Mal seit sie gemeinsam auf dieser Pritsche schliefen, wie ein Liebender. Sie wurden zu Mann und Frau, und die Vereinigung ihrer Körper vollzog sich als Symbol ihrer Begegnung, die sich durch das anfängliche Schachspiel, den gemeinsamen Bau des Automaten und den geistigen Raum der Konstruktion der Grande Dame und der entsprechenden Klangwelt für Ana längst über jegliche äußeren Bedingungen, Forderungen und Zwänge hinweggesetzt hatte.

3
    Am Morgen des 21. Juni 1784 stürzte Montallier mit zwei Hunden, vier Gehilfen und drei Mägden in den Keller. Polternd, keifend und fluchend zerrten die Angestellten eine Unmenge Holz, Stoff und viel Stroh die Treppe hinunter. Montallier verteilte lautstark Anweisungen, zeigte mit seinem Säbel da und dort hin, verlangte mehr Tempo und prüfte das niedergelegte Material. Hechelnd und schwanzwedelnd zogen die Hunde durch den Keller, schnüffelten in den versifften Ecken, steckten ihre Nasen unter das Stroh, unter die Decken der Liegepritsche, kratzten mit ihren Pfoten an den Gewändern der Puppen, an den Kisten und Truhen, zerrten an den Innereien der Automaten, ließen nichts unbeschnuppert.
    Sauber rasiert, mit Hut und frischen Kleidern stand Jean-Louis mit verschränkten Armen vor der tadellos herausgeputzten, nach allen Seiten hin verschlossenen Grande Dame und wehrte die Hunde ab. Ana lag ausgestreckt im schützenden Hohlbalken.
    Montallier pfiff seine Hunde zurück und befahl seinem Personal, sich in Reih und Glied aufzustellen.
    »Mein lieber Sovary«, begann er mit schwerer, beinah nachdenklicher Stimme, »die Grande Dame geht nun auf Reisen. Bis hierher hast du mich nicht enttäuscht. Auf euch Jurassier ist doch immer noch Verlass! Aber nun
wirst du dich von deinem Werk trennen müssen. Die Idee stammt ja nicht von dir!« Montallier lächelte, als er dies sagte. Etwas unbeholfen schaute er in die Runde und suchte nach Bestätigung. Aber dann fuhr er fort. »Wir zerlegen die Grande Dame nun in einzelne kommode Teile und verpacken sie in mehrere Kisten. Wo ist das Monster?«
    »Ana wird den Automaten nicht verlassen«, sagte Jean-Louis ruhig.
    »Sie ist da drin?«
    »Und da bleibt sie auch.«
    »Aber für den Transport!«
    »Wenn Sie Ihre Grande Dame vorführen wollen«, unterbrach ihn Jean-Louis, »dann zerlege ich sie höchstpersönlich. Und jedes Einzelteil wird genau so verpackt, wie ich es sage. Ohne mich werden Sie diese Maschine nie und nimmer zum Laufen bringen!«
    Montallier zuckte leicht mit der Schulter und verzog einen Mundwinkel.
    »Wie du willst.«
    Montallier befahl seinen Gehilfen, Sovarys Anweisungen zu

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