Das taube Herz
Tod bestraft. Jean-Louis blieb nichts anderes übrig, als Anas Wachsamkeit und ihrer Intuition zu Vertrauen.
Als der italienische Präsentator Blaise Montallier das Wort übergab, holte dieser zu einer ausschweifenden philosophischen Betrachtung aus, die keinen Stein auf dem
anderen ließ und alle wichtigen Argumente, die im Café La Régence vorgebracht worden waren, zusammenfasste und gleichzeitig verstärkte oder widerlegte.
»Ich werde Ihnen erklären«, schloss er seine Rede, »wie unser österreichischer Gast, der sich als Erfinder ausgibt, Sie an der Nase herumführt. Ich werde Ihnen zeigen, auf was für einen gemeinen, alten und umso blamableren Schaubudentrick die größten Wissenschaftler der Nation hereingefallen sind!« Er wolle weder religiöse noch wissenschaftliche Argumente gegen Wolfgang von Kempelen anbringen. Die weiteren theoretischen Erklärungsversuche überlasse er gerne kundigeren Spezialisten. Allein über den Beweis der Nachahmung solle Wolfgang von Kempelen als simpler Illusionskünstler und deshalb als Scharlatan und Betrüger entlarvt werden.
Während Montallier sich vor dem gespannten und offensichtlich zweifelnden Publikum in seine feurige Rede verstieg und mit der Präsentation des Ebenbildes von Marie Antoinette in der aufrecht sitzenden Puppe der Königin höchstpersönlich seine Ehre erwies, beobachtete Jean-Louis von seinem Platz aus den Rücken der Grande Dame, löste seinen Blick keine Sekunde von dem Haar und dem langen Kleid, das seine Konstruktion umhüllte, durchwanderte in Gedanken die Stangen und Wellen, die Drähte und Räder von der Schulter der Puppe bis hinunter in den Kasten, bis in die innerste und feinste Mechanik, welche die Verbindung zu Ana herstellte. Ihre Finger konnten auf der Klaviatur seiner Konstruktion spielen wie auf einem eleganten, einzigartigen Instrument. Die Partitur des bevorstehenden Konzerts sollte erst noch geschrieben werden, und ihre Uraufführung war gleichzeitig die Entstehungsgeschichte
dieser einmaligen Symphonie. Jean-Louis betrachtete den Faltenwurf des königlichen Kleides und wusste, dass Ana diese Aufführung meistern würde. Auch wenn nichts an der Grande Dame ihre Anwesenheit verriet, so sah Jean-Louis in diesem Augenblick doch nichts anderes. Als Montallier damit begann, die einzelnen Schubladen und Türchen zu öffnen, um dem Publikum Einblick in die Konstruktion der Grande Dame zu gewähren, ganz wie Kempelen es mit seinem Schachtürken gemacht hatte, sah Jean-Louis nicht einzelne Teile seiner eigenen Konstruktion wieder, sondern verschiedene Aspekte jener Frau, die über die Monate der Gefangenschaft im Keller seine Geliebte geworden war. Die Grande Dame war kein Automat mehr, kein Werk der mechanischen Konstruktion und auch kein Meisterwerk des Illusionstheaters. Unter den Augen der Königin Marie Antoinette und des versammelten Publikums wurde die Grande Dame für Jean-Louis zur Inkarnation der Begegnung von Mann und Frau. Die fein ziselierte und zweckentfremdete Uhrenmechanik war die perfekt ausformulierte Umarmung, das Entgegenkommen und das Aneinanderschmiegen zweier Körper. In den verschraubten und über Wellen verhängten Stangen und Rädern sah Jean-Louis die ineinandergefalteten Hände, den zärtlich-ängstlichen Blick Anas, ihre geistige und körperliche Begegnung. Und in diesem Augenblick hatte Jean-Louis das seltsame Gefühl, Anas Anwesenheit in der Grande Dame nicht nur zu wissen, sondern sie zu hören, ihren Klangkörper, wie sich Ana ausgedrückt hatte, wahrzunehmen. Er horchte in den Lärm des animierten Spiegelsaals und vernahm plötzlich vage Melodien, Ober- und Untertöne, Harmonien und Akkorde,
die aufeinanderfolgten wie unendliche Kausalketten. Dass Ana die Welt in Klängen wahrnahm und in Klängen empfand, dachte, rechnete und Schach spielte, schien ihm für diesen kurzen Augenblick das Normalste und Offensichtlichste der Welt.
Erst als Montallier effektvoll den Hebel am unteren Kasten ansetzte und die Grande Dame aufzog wie eine große Standuhr, damit sie zum Start des Schachkonzerts ein erstes Musikstück zum Besten gebe, schrak Jean-Louis aus seinen Träumereien und bangte plötzlich um das korrekte Funktionieren. Völlig unnötig, denn die Grande Dame machte wie angekündigt die nötigen Armbewegungen und begann mit den kleinen Hämmerchen auf die Saiten des Zimbals zu schlagen, als spielte die Majestät höchst persönlich ein kurzes Musikstück. Die Begeisterung im Publikum war so groß, dass sich
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