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Das taube Herz

Titel: Das taube Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urs Richle
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einige Herren und Damen von ihren Stühlen erhoben, mit Taschentüchern und Fächern winkten, um eine Zugabe riefen, die Montallier nur zu gerne gestattete.
    Die Musikstücke und die darauf folgenden Rechenkünste der Grande Dame zogen an Jean-Louis vorüber wie ein Traum, dessen Baumeister er selber war. Nach den ersten korrekten Rechenergebnissen und einem beeindruckend schnell ausgeführten Rösselsprung wusste Jean-Louis, dass Ana in Höchstform war und alles nach Plan lief. Das eigentliche Spiel gegen den österreichischen Schachtürken, dessen Vorspiel die Grande Dame mit Bravour überboten hatte, konnte beginnen.
    Hinter der Bühne wurde nun eine hohe, bis dahin unter langen, weißen Tüchern verborgen gehaltene Holzwand enthüllt, auf der das Schachbrett abgebildet und
das Spiel der beiden Automaten nachgestellt wurde, damit es von allen Anwesenden im Spiegelsaal mitverfolgt werden konnte. Die durch weiße und schwarze Schablonen dargestellten Figuren wurden von zwei Dienern mit langen Stöcken behutsam an kaum sichtbare Haken in die Grundstellung gehängt. Von seinem Platz hinter der Bühne aus beobachtete Jean-Louis, wie der italienische Präsentator hinter seinem Rücken einen Kartentrick anwandte, um bei der Losziehung dem österreichischen Gast Schwarz zuzuspielen. Anscheinend erhoffte sich Kempelen dadurch einen Vorteil, oder sein versteckter Spieler im Innern des Türken spielte ganz einfach schlechter mit Weiß. Es belustigte Jean-Louis geradezu zu entdecken, dass sein Gegner auf so niederem Niveau mit dem lächerlichen Mittel der Bestechung statt mit technischen Errungenschaften gegen ihn kämpfte.
    Nachdem beide Bauherren ihre Automaten erneut effektvoll aufgezogen und streitbar gemacht hatten, zog die Grande Dame den ersten Bauer von e2 nach e4, worauf der Türke ohne zu zögern mit einem c7-c5 antwortete. In den darauf folgenden Zügen erkannten die Schachkundigen im Publikum die vom Schachtürken gespielte Sizilianische Verteidigung, auf welche die Grande Dame mit soliden Zügen antwortete. Bis dahin nichts Besonderes und nicht weiter Erstaunliches, da sowohl diese Eröffnung als auch die Verteidigung bis zum ersten Dutzend Züge ohne Weiteres geplant, aufgeschrieben und irgendwie gespeichert werden konnte.
    Was nicht nur Jean-Louis, sondern auch dem versammelten Publikum und der Königin schon nach den ersten Zügen auffiel, war die Schnelligkeit, mit der die künstliche
Marie Antoinette auf die Züge des Schachtürken reagierte und ihn einen um den anderen Zug übertrumpfte. Die Antworten kamen Schlag auf Schlag, ohne jegliches Zögern, ohne Bedenk- und Rechenzeit, so als hätte sie den Zug des Schachtürken jeweils bereits vorausgesehen und erwartet. Geschmeidig und elegant schwenkte die Grande Dame ihren Arm über das Spiel, fasste mit den beweglichen Holzfingern nach der Figur und stellte sie sanft auf das neue Feld.
    Beim zehnten Zug fuhr der Schachtürke den Läufer nicht wie an dieser Stelle üblich für die sizilianische Verteidigung nach e7, sondern bis nach b4 vor. Anscheinend wollte er seine Gegnerin mit dieser Abweichung auf die Probe stellen, aber auch darauf antwortete die Grande Dame unverzüglich, und dann hagelte es eine Serie von Zügen, die den Türken mehr und mehr in Bedrängnis brachten.
    Es war beim vierundzwanzigsten Zug, nachdem die Grande Dame ein überraschendes Bauernopfer auf d5 gespielt hatte, als die gespannte Stille im großen Spiegelsaal plötzlich einem chaotischen Flüstern, Murmeln und Räuspern wich. Beim Erfassen und Vorfahren des Turms von d1 auf d5 stieß der kleine Finger ihrer rechten Hand an die weiße Dame auf e3 und brachte diese aus Versehen zu Fall. Schon wollte Montallier selbst in das Spiel eingreifen und den Turm wieder aufrichten, aber der italienische Präsentator pfiff ihn energisch zurück.
    »Niemand greift in das Spiel ein!«, schrie er und näherte sich selbst der Grande Dame, deren rechte Hand den Turm festhaltend über dem Spiel schwebte und nicht mehr vor und nicht mehr zurück wusste. Vorsichtig griff
der Präsentator nach der weißen Dame und richtete sie auf. Aber der Arm der Grande Dame blieb blockiert, der Turm in der Luft, das Spiel war unterbrochen. Schon holte Wolfgang von Kempelen zu triumphierenden Worten aus, schon winkten die Damen verachtend mit ihren Fächern, schon warfen die Herren mit vorwurfsvollen Blicken und Bemerkungen um sich.
    Montallier, kreideweiß und ratlos, wagte es nicht mehr, die Grande Dame auch nur zu

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