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Das taube Herz

Titel: Das taube Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urs Richle
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durch die Menschenmenge zur Bühne zurück und verhedderte sich in wilden Erklärungsversuchen. Er stotterte etwas von einem Biest, einer Frau, einem Schachgenie aus Nizza, das in der Grande Dame am Werk gewesen sei, und genau so, mit einem Menschen in der Kiste, habe es auch Kempelen bewerkstelligt, aber niemand hörte ihn, niemand achtete mehr darauf, was Montallier sagte. Die aufgebrachte Menschenmenge verlangte nur eins, die Fortsetzung des Turniers, eine zweite Partie, auf dass Montallier die Grande Dame so schnell wie möglich wieder zusammenbaue und dem Habsburger Revanche gewähre. Holz- und Metallteile flogen durch die Luft, Männer mit Stöcken stürmten die Bühne und wollten die Einzelteile persönlich in die Hand nehmen, sie berühren, einen eigenen Augenschein nehmen von der inneren Konstruktion, von den Stoffen und der Logik der Grande Dame.
    Montallier hatte sich in Jean-Louis’ Ecke gekämpft, seinen
Mechanikus am Hals gepackt und würgte und presste ihn mit beiden Händen so fest, als wollte er nicht nur Wörter, sondern Ana de la Tour persönlich und den gefährdeten Sieg gegen den Österreicher von Kempelen auf der Stelle aus ihm herauspressen. Da sprangen zwei Seitentüren gleichzeitig auf und mehrere Soldaten stürzten auf den tollwütigen Montallier, zwangen ihn, seinen Vasallen loszulassen und selbst Atem zu holen. Er wäre fähig gewesen, Jean-Louis auf der Stelle zu erwürgen, und er hätte es getan, wenn diese steifen, höfischen Lakaien ihn nicht zurückgehalten hätten. Montallier schäumte vor Wut und beschwichtigte die Soldaten so lange mit wortreichen Erklärungen, bis sie ihn wieder losließen und abzogen.
    »In die Scheune zurück!«, schrie er, während Wolfgang von Kempelen von der Bühne herunter das Publikum in den Griff nahm. »Du willst also in die Scheune zurück!«
    Jean-Louis schmerzte der Hals, aber er ließ nicht locker. »Dann gebe ich Ihnen Ana!«
    »Aber eben war sie noch in dem Hohlbalken, wie soll sie denn jetzt in der Scheune sein?«
    »Das erkläre ich Ihnen dort!«
    Montallier versuchte, sich zu beruhigen, seinen Zorn zu beherrschen, aber es wollte ihm nicht gelingen. Jean-Louis’ stoische Ruhe verwandelte seine Befürchtungen und Ängste in Panik.
    Von der Bühne herab forderte Kempelen Montallier zu einem zweiten Spiel heraus, aber die Grande Dame war entkleidet und ihres geistigen Zentrums beraubt. Montallier hatte keine andere Wahl, als Jean-Louis mit zwei Reitern zur Scheune zu schicken, auch wenn er ahnte, dass er damit das Wissen und die Kenntnis der Grande Dame aus
dem Raum und wie einen Geist aus der Flasche vielleicht für immer in die Welt entweichen ließ. Er befahl, Jean-Louis mit Lederriemen zu fesseln, und kommandierte zwei Gehilfen ab.
    Wolfgang von Kempelen nutzte die Verwirrungen seines Gegners, um den Schachtürken gegen Spielwillige aus dem Publikum antreten und gewinnen zu lassen, führte noch einmal einen Rösselsprung vor und forderte von Montallier, seine schamlosen Erklärungen mit Beweisen zu untermauern. Behelfsmäßig hatte dieser die Grande Dame wieder zusammengeflickt, so dass die königliche Puppe dem Schach spielenden Türken erneut gegenübersaß, die Arme leicht angewinkelt, den toten Porzellanblick starr in die ferne, ungewisse Zukunft gerichtet, zwei Augen, die dem Orgelbauer und Automatenerfinder Blaise Montallier in diesem Augenblick den Verstand raubten.
    Wie ein aufgescheuchtes Huhn stürzte Montallier durch eine Tür und hetzte schreiend und fluchend, Fäuste und Kopf schüttelnd durch das Labyrinth der Schlossräume, raufte sich das Haar, riss sich Knöpfe vom Rock, warf Stühle und Tische um und zerschmetterte Spiegel und Fenster. In der Bibliothek schließlich warf er sich zu Boden, heulte wie ein Schlosshund, hörte nicht auf zu winseln und mit den Armen um sich zu schlagen, bis vier Hofdiener ihn zur Beruhigung in ein langes Leinentuch wickelten und auf einer Bahre abtransportierten.
     
    Dies alles erfuhr Jean-Louis am Tag nach dem großen Duell in der Scheune, wo ihn die beiden Helfer Montalliers in der falschen Hoffnung, Ana dort zu finden, hingebracht hatten. Ein dritter Diener, der treueste und älteste unter
ihnen, stieß, über die plötzliche Herrenlosigkeit am Boden zerstört, noch vor Sonnenaufgang zu ihnen und berichtete. Der Bauer, dem die Scheune gehörte, erschien kurz darauf, um nach dem Rechten zu sehen, und erzählte dasselbe, nur anders. Schließlich wußten sogar die Leute im nächsten Dorf von dem

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