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Das taube Herz

Titel: Das taube Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urs Richle
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berühren, stapfte zweimal um sie herum, drehte verzweifelt an der Zugfeder, blickte mehrmals hilfesuchend zu Jean-Louis hinunter, bis er ihn auf die Bühne winkte.
    Gehorsam folgte Jean-Louis dem Befehl und wusste als Einziger, dass dieser Zwischenfall kein Versehen war. Er öffnete den Kasten der Grande Dame mit zwei nur ihm bekannten Handbewegungen und steckte fachmännisch den Kopf in den Kasten, tastete unter den unzähligen Augen, die seine Gesten verfolgten, mit der rechten Hand kontrollierend über den laufenden Mechanismus, während die linke, verdeckt durch seinen Oberkörper, drei kleine Hebel betätigte. Drei unscheinbare Metallstifte, welche die Weichen für den weiteren Lauf der Dinge neu stellen sollten. Alles lief nach Plan. Ana hatte es geschafft, ihn auf die Bühne zu holen, damit er ihr gemeinsames Unternehmen einleiten konnte. Behutsam schloss Jean-Louis den Kasten wieder, und der Arm der Grande Dame schwenkte aus und schlug den gegnerischen Turm auf d5. Darauf folgten einige verzweifelte Verteidigungszüge des Schachtürken, bevor die Grande Dame ihn erst um einen völlig unbeteiligten Bauern erleichterte und ihn dann mit mehreren Mattangriffen im neununddreißigsten Zug zur Aufgabe zwang.

    In Windeseile wurden die Züge auf der großen Wand nachgestellt und erzeugten eine Welle des Aufruhrs, der Begeisterung und der Empörung. Aber noch bevor Montallier oder Kempelen sich zum Ausgang des Spiels äußern konnten, wechselte die Grande Dame ganz von selbst das Schachspiel wieder gegen das Zimbal aus und fing, ohne Montalliers Aufforderung oder Einwilligung abzuwarten, zu spielen an. Mit einem alten französischen Volkstanz brachte sie das aufgebrachte Publikum wieder zum Schweigen. Weder Montallier, der sich von dem Spektakel überrascht in den Hintergrund verzogen hatte, noch das Publikum bemerkte, dass die künstliche Marie Antoinette sich während des Spiels anders als bisher leicht zur Seite neigte, den Kopf etwas anhob und mitten im Spiel eine sanfte, ihren ganzen Körper erfassende, sogar das Musikspiel kurz stocken lassende Erschütterung erlitt. Für Jean-Louis war dieser Zwischenfall das Zeichen dafür, dass alles nach Plan verlief, dass seine Konstruktion mechanisch umsetzte, was er sich ausgedacht und erhofft, jedoch nie unter realen Betriebsbedingungen hatte probieren können. Durch dieses letzte Musikstück wuchs die Grande Dame innerlich über Montalliers Vorhaben hinaus, verselbständigte sich unter Jean-Louis’ Führung und befreite sich aus den Fesseln ihres vorgeblichen Erfinders. Mit dem Einsetzen dieser alten Melodie gehorchte die Grande Dame nicht mehr Montalliers Befehlen, sondern verfolgte Jean-Louis’ perfekt ausgearbeiteten, geheimen Plan. Montallier, nun von der Bühne heruntergestiegen und auf einen Stuhl niedergesunken, glaubte, der Meister dieser Maschine zu sein, sie durch die Macht über ihren Konstrukteur bis in die letzte und feinste Bewegung zu beherrschen. Er lebte in
einer Illusion. Und das war Jean-Louis’ einziges Glück. Nichts war einfacher, als seinem Erpresser die Welt vorzugaukeln, die er sich wünschte. Die Grande Dame war, was der Auftraggeber bestellt hatte, eine große Illusionsmaschine. Das eigentliche Rechenzentrum, welches die Bewegungen und die Aktionen dieser intelligenten Puppe steuerte, die letzte und oberste Instanz befand sich nicht dort, wo Montallier sie vermutete. Ana mit ihren mathematischen und spielerischen Kompetenzen war ein Teil des gesamten Mechanismus geworden. Ihr außergewöhnliches Hirn spielte in perfekter Harmonie Hand in Hand mit den Rädern, Wellen, Gesperren und Seilzügen. Was die Walze für das Musikspiel, war Ana für die Rechenaufgaben und Schachpartien. Ihr Hirn enthielt die Informationen, die auf keiner Walze der Welt Platz finden würden, und doch spielte es keine andere Rolle. Das Zentrum der Macht, der letzten Entscheidung über Leben und Sterben, über Ziel und Zweck, die Zelle des Willens und des Schicksals der Grande Dame hingegen befand sich nicht innerhalb, sondern außerhalb des Kastens, außerhalb des gesamten Mechanismus, außerhalb der intelligenten Maschine. Jean-Louis hatte drei kleine Hebel betätigt, die Montallier als Erfinder und als Meister der Grande Dame entmachteten und ihm, Jean-Louis, die Mündigkeit zurückgaben, welche Montallier ihm mit so selbstgefälliger wie leichtfertiger Arroganz entzogen hatte.
     
    Die Grande Dame legte die Schlagstöcke zur Seite, nickte abschließend mit dem Kopf

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