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Das taube Herz

Titel: Das taube Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urs Richle
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und brachte Körper und Arme in Ruhestellung. Lange hallte der Klang der Saiten im großen Spiegelsaal nach und mündete in eine Stille, als
hätten alle versammelten Gäste den Atem angehalten. Montallier saß ruhig auf seinem Stuhl. Der italienische Präsentator und sogar Wolfgang von Kempelen waren auf der Bühne erstarrt. Selbst Jean-Louis bewegte sich nicht. Die Zeit stand still, als ein letztes Knacken aus dem Holzsockel zu vernehmen war, so als spränge ein großes Gesperr von einem Zahn, von einer Zähleinheit auf die nächste über. Damit war Jean-Louis’ Kunststück, das ambitionierteste und komplexeste, das gewagteste und gefährlichste Meisterwerk seiner Automatenbauerkarriere vollbracht. Ana war, ohne dass es der prahlerische Montallier oder das unwissende Publikum bemerkt hatte, verschwunden.
    Natürlich hatte Jean-Louis für diesen etwas fortgeschrittenen Schaubudentrick eine vorteilhafte Ausgangsposition. Er ließ eine Person verschwinden, die von Anfang an nicht sichtbar und außer für Montallier und Jean-Louis selbst gar nicht vorhanden war. Er ließ das Unsichtbare, das Geheimnis der Grande Dame auf eine so elegante Weise verschwinden, dass es niemand bemerkte. Jean-Louis hatte es geschafft, die Illusion der Grande Dame für diesen einen Augenblick aufrechtzuerhalten und gleichzeitig ihr innerstes Zentrum, die Unruh, ihr schlagendes Herz zum Verschwinden zu bringen. Über einen hochkomplizierten Mechanismus, den Jean-Louis zusammen mit Ana in Montalliers Keller erdacht und gebaut hatte, war es ihm gelungen, dem Automaten, welchem er auf so spektakuläre Weise Leben eingehaucht hatte, eben gerade diesen Lebenshauch, den organischen, intelligenten Kern wieder zu entziehen. Damit stieß Jean-Louis den vermeintlich größten und komplexesten Automaten seiner Zeit willentlich zurück in die Welt der Komplikationen,
in die Welt der willenlosen, zwar raffiniert gebauten, jedoch toten Uhrwerke, in die alle Automaten seiner Zeit gehörten. Wie Leichentücher hüllten die Schichten der weißen Robe die künstliche Marie Antoinette ein, aber nur Jean-Louis wusste in diesem Augenblick um ihren leisen Tod, nur er kostete genüsslich das Bewusstsein darum, dass er die kurz zum Leben erweckte mechanische Königin eben gerade wieder zu dem gemacht hatte, was sie von Anbeginn an gewesen war: geschnitztes Holz, bemaltes Porzellan, gedrehtes, gedeichseltes und gezogenes Metall, bestickte Seide und trockenes, totes Menschenhaar.

7
    Und nun, meine Damen und Herren«, rief Montallier in das ehrfurchtsvolle Schweigen des Publikums, »zeige ich Ihnen wie versprochen den wahren Hintergrund dieses Meisterwerks!« Schweren Schrittes näherte er sich der Grande Dame, drehte die ganze Konstruktion mit der wackelnden Puppe einmal um die eigene Achse und riss dann den Kasten mit zwei so heftigen Handgriffen auf, dass die Scharniere platzten. Nicht nur die Scharniere, auch seine Rede platzte aus allen Nähten, überschlug sich in Ankündigungen und Versprechen, Beschuldigungen der gegnerischen Partei. Genüßlich zögerte er den Moment der Aufdeckung hinaus, entfernte Hülle um Hülle, entblößte die Grande Dame mit Worten und Gesten, bis die vereinigten Blicke des Publikums vordringen konnten zum Kern der Grande Dame, zur Seele, wie Montallier diesen Baustein vorstellte, dem aus hellem Lindenholz gebauten Balken. Wortgewandt demonstrierte er die Biegsamkeit der drei Teile, erklärte die Klappbewegungen in Bezug auf die Demonstration des Automaten vor dem Spiel, erläuterte die Optik des Periskops und holte schließlich aus zur letzten Geste, die den Schachtürken endgültig zum Schaubudentrick und Wolfgang von Kempelen zum Schurken degradieren sollte. Er hob den Deckel ab und gab den Blick frei in den Hohlbalken.

    Das Publikum erhob sich, drängte nach vorn, rang nach einem kurzen Blick in die mit Samt ausgelegte Schatztruhe, dessen Inhalt noch immer ein Rätsel blieb.
    »Wo ist sie?«, schrie Montallier entsetzt, als er die Leere in dem Hohlbalken erblickte, stürzte von der Bühne hinunter und packte Jean-Louis am Kragen. »Wo ist das Biest!« bebte er. Es war für Jean-Louis ein Leichtes, dessen schwere, vor Panik zitternde Pranke abzuschütteln.
    »Bringen Sie mich in die Scheune zurück«, sagte Jean-Louis ruhig.
    Zwei Gehilfen packten ihn auf Geheiß Montalliers an den Oberarmen und schleiften ihn in eine Ecke. Das Publikum hatte sich von den Stühlen erhoben und drängte weiter nach vorn. Montallier arbeitete sich

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