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Das taube Herz

Titel: Das taube Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urs Richle
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Vorfall in Versailles und erzählten ebenfalls. Die ganze Welt schien innerhalb von wenigen Stunden über den Ausgang des Spiels der beiden Schachautomaten und über die maßlose Blamage Montalliers informiert worden zu sein. Und die Gerüchte wollten es, dass die Grande Dame schließlich, da sie nicht fähig war, zu einer zweiten Partie anzutreten, unter dem Drängen und dem höhnischen Rufen und Pfeifen des aufgebrachten Publikums von Baron von Kempelen höchstpersönlich, einem Chirurgen gleich, in Kopf, Hals, Rückgrat, in Walzen und Räder, Drähte und Schrauben zerlegt worden sein sollte, um dem als Androiden daherkommenden Monstrum seine ursprüngliche Gestalt wiederzugeben. Vielleicht aber hatte von Kempelen diese Demonstration der toten Materialien auch ganz souverän seinem eigenen Gehilfen oder gar dem aufgebrachten, hysterischen Publikum überlassen und gestattete ihm, die Grande Dame zu plündern wie einen in Konkurs gegangenen Ramschladen.
    Wie dem auch sei, fest steht, dass weder der Hoforgelbauer Blaise Montallier noch der ungelernte Uhrmacher und Ausnahmemechaniker Jean-Louis Sovary aus dem kleinen Dorf Le Locle im Neuenburger Jura offiziell je dem österreichischen Automatenbauer von Kempelen persönlich zu einem Automatenduell gegenübergestanden haben soll. Der Baron von Kempelen und sein unbesiegbarer, unerschütterlicher Schachautomat wurden dankend verabschiedet,
und das im großen Stil angekündigte und für alle Anwesenden äußerst peinlich verlaufene Spiel Frankreichs gegen Österreich wurde in der Pariser Intelligenzija aus der Agenda, aus den Gesprächen, aus dem kollektiven Gedächtnis und aus der Geschichte ausradiert. Selbst die abgeschlossenen Wetten wurden für null und nichtig erklärt. Keinem einzigen Gast im Café de la Régence wäre es in den Sinn gekommen, nach dem für den französischen Hof so beschämenden Ereignis in Versailles einen Gewinn einzufordern. Jede noch so vage Andeutung an das blamable, den ganzen französischen Hof diskreditierende Spiel der Grande Dame gegen den Schachtürken aus Österreich wurde sofort und für immer als Schande abgetan und in allen Reminiszenzen und in jeder Erinnerung im Keim erstickt und ausgelöscht.

SECHSTER TEIL

1
    Drei Jahre später, im Oktober 1787, saß Jean-Louis am kleinen Arbeitstisch, den er sich am Fenster der Boutique Sovary - Horloger Réparateur, einer kleinen Arkade in der Rue des Etuves in Genf, eingerichtet hatte, und legte die feine Kette in den Schneckenantrieb einer älteren, reich verzierten, wegen ihrer zwiebelartigen Form »Montre Oignon« genannte Taschenuhr ein. Es war ihm gelungen, die vor über hundert Jahren gebaute und im Stil Louis XIV. in Silber und Messing azurierte und mit blauen römischen Ziffern ausgestattete Taschenuhr zu reparieren und auf Hochglanz zu polieren, so dass sie wie neu strahlte. Ein italienischer Handelsmann aus Rom, dem für sein vordergründig technisches, tatsächlich jedoch zutiefst persönliches Problem der Name Sovary in Genf empfohlen worden war, hatte sie ihm in aller Eile und mit windigen Erklärungen in die Boutique gebracht. Ein Geschenk seiner Großmutter mütterlicherseits müsse er wissen, hatte der Handelsmann zitternd vor Aufregung geflüstert, eine stramme, selbstbewusste Frau aus Lyon, die Ende des vergangenen Jahrhunderts unter Mitgift einiger teurer Möbelstücke und dieser aus dem Hause Mousset in Paris stammenden Montre Oignon nach Russland verheiratet worden sei. Unter tragischen Begleitumständen sei sie jedoch aus ihrer jungen Ehe geflohen und allein und
zu Fuß durch Schnee und Matsch nach Wien marschiert, nur um dort in die Knechtschaft eines irren Landgrafen zu geraten, der sie wiederum, aus Geldnot und amouröser Verzweiflung, wie dieser behauptet habe, zusammen mit seinem Knecht nach Rom weiterschickte, wo sie, kurz nach der Geburt einer zierlichen Tochter, die später seine Mutter werden sollte, an Gelbfieber starb. Diese kleine runde Taschenuhr habe die ganze Reise mitgemacht, und nun sei sie das Einzige, wimmerte der Handelsmann weiter, was von seiner Mutter übrig geblieben sei, die letzte treibende Kraft der Familie, der letzte Lebensfunke, der, Maître Sovary werde es nicht glauben, am Tag, als sie starb, wie durch Geisterhand erloschen sei. Der Maître möge den Mechanismus seiner Montre Oignon um alles in der Welt und so rasch wie möglich wieder zum Leben erwecken, bettelte der Gebeutelte unter Tränen, um seine Geschichte, seine persönliche

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