Das Testament der Jessie Lamb: Roman
nicht wahrhaben wollen. Als die Welt schon einmal so verderbt gewesen sei, habe Gott eine Flut gesandt, und allein Noah und dessen Arche seien verschont worden. Jetzt werde die ganz Menschheit aussterben, wenn wir Ihm nicht beweisen würden, dass wir dem Bösen entsagt hätten.
Meine Mum hatte inzwischen trockene Sachen angezogen. »Was hältst du davon?«, fragte sie Dad.
»Der übliche fundamentalistische Quatsch.«
»Mandy steht drauf.«
»Du hast Mandy besucht?«
»Ja. Sie will am Sonntag zu dem Treffen gehen – sie möchte, dass ich sie begleite.«
»Ich würde die Finger davon lassen«, meinte Dad.
»Außerdem hat sie angefangen, bei sich aufzuräumen. Sie sagt, Gott liebe die Sauberkeit.«
Dad reichte ihr einen Becher Tee. »Wenn sie Leute bekehren wollen, weshalb suchen sie sich dann nicht Gesunde aus? Warum knöpfen sie sich instabile psychisch Kranke vor? Die, sagen wir’s ganz offen, leicht zu missbrauchen sind.«
»Glaubst du, man will sie missbrauchen?«
»Passiert es nicht häufig, dass Sekten Menschen missbrauchen? Sie nehmen ihnen ihr Geld ab, oder sie machen die Frauen zu Sexsklaven des Anführers.«
»Sie sagt, es gäbe keinen Anführer. Sie wollen die Welt voranbringen, damit Gott sich besinnt und ihnen von sich aus einen Führer schickt.«
»Und was werden sie tun, wenn Gott sie nicht erhört? Begehen sie dann Massenselbstmord? Hast du schon von Jim Jones’ Volkstempel gehört? Oder von den Branch-Davidianern – von der Waco-Belagerung?«
»Mein Gott …« Mum beugte sich scheinbar resignierend vor, bis ihre Stirn die Tischplatte berührte, dann richtete sie sich auf und wandte sich wieder an meinen Dad. »Du weißt genau, dass Mandy depressiv ist, Joe. Sie duscht nur noch dann, wenn ich sie dazu zwinge. Und jetzt …«
»Haben sie sich eine kranke, verletzliche Frau ausgesucht …«
»Und jetzt …«, fuhr meine Mum fort, als habe sie ihn nicht gehört, »sagt sie, es gibt etwas, das sie tun kann.«
»Was soll sie tun?«
»Harmlose Sachen. Dem Alkohol und dem vorehelichen Sex entsagen. Die Zehn Gebote befolgen.«
»Cath, man hat sie einer Gehirnwäsche unterzogen.«
»Wir beide haben uns darauf verständigt, dass sie Antidepressiva nehmen soll. Deren Wirkung nicht darin besteht, die deprimierenden Lebensumstände zu ändern, sondern einen glauben machen, es sei auch so alles in Ordnung. Wieso sollte es dann schlimmer sein, wenn sie tatsächlich ihr Leben verändert?«
Mandy schloss sich den Noahs an. Sie ließ sich nicht davon abbringen.
Ein paar Tage später regnete es noch immer, und ich borgte mir Mums Regenmantel und brachte die Gemüseabfälle auf den Kompost. In der Tasche mit den alten Papiertaschentüchern fand ich einen gefalteten Notizzettel. Die Handschrift war mir unbekannt.
17.30 Di, ich kann dich abholen. Ruf nicht an, ich bin zu Hause. Simse morgen früh. X
Was bedeutet Ruf nicht an, ich bin zu Hause ? Heißt das, die falsche Person könnte ans Telefon gehen? Weil man eine kranke Oma hat, die nicht vom Klingeln eines Telefons gestört werden darf? Oder weil man nicht mit Mum sprechen möchte, wenn jemand anders zuhört? Ich dachte an die Unterhaltung zwischen Mandy und Mum, als Mum meinte, niemand sei ohne Schuld. Aber am Dienstag war sie abends in der Klinik, da kam sie immer spät nach Haus. Ich schlug es mir aus dem Kopf.
Ich glaube, als Nächstes wurde ich angespuckt. Es war keine große Sache, ich will es auch gar nicht aufblasen, aber vor Scham wird mir immer noch ganz heiß, und mir bricht der Schweiß aus. Es war nicht annähernd so schlimm wie das, was Sal passiert ist. Beide Vorfälle aber gehören zum gleichen Muster; zu dem Muster, das mich hierhergebracht hat, in diesen düsteren Raum, wo ich mit gefesselten Füßen dasitze und auf die Schritte meines Dads lausche, der über mir auf den Holzdielen auf und ab geht.
Ich kam gerade mit Nat von YOFI zurück. Es war einer jener heißen Augusttage, an denen die Straßen so heiß sind, dass der Asphalt noch um zehn Uhr abends Wärme abstrahlt und der Himmel hell und klar bleibt. Nach dem stickigen Gemeinschaftszentrum tat es gut, an der frischen Luft zu sein. Die Geschäfte an der Hauptstraße waren geschlossen, die heruntergelassenen Jalousien mit Graffiti beschmiert. Es gab leer stehende Häuser mit zerbrochenen Fensterscheiben, und es waren merkwürdige Männer unterwegs. Ich war froh, dass Nat mich begleitete. Dann sagte er mir, er wolle aussteigen.
»Aber warum? Der Flughafen-Protestplan,
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