Das Testament der Jessie Lamb: Roman
alle tot.«
Er lächelte. »Das ist keine endgültige Lösung, Jessielein. Aber immerhin ein Anfang.«
Als er weg war, legte ich mich vor dem Fenster auf den Boden und schaute zu der Buche auf, während es allmählich dämmerte. Meine Eltern hatten immer damit gedroht, die Buche zu fällen, weil sie zu nah am Haus stand. Vom Boden aus sieht man im Winter und im Frühling den Himmel durchs kahle Geäst, und das Licht ist immer wieder anders. Und wenn die Blätter sprießen, sind sie weich und feucht wie frisch geschlüpfte Küken. Dann werden sie härter und dunkler, aber an sonnigen Tagen schimmert noch immer der Himmel hindurch. Wenn ich die Buche eine Weile angeschaut habe, fühle ich mich selbst ein bisschen wie ein Blatt, sehe über mir durchs Laub Fragmente des leuchtenden Himmels, flattere im Wind zusammen mit all den anderen Blättern oder biege mich unter den zerplatzenden Regentropfen. Das ist eine Art Trance. Ich bin nicht mehr Jessie, dieses unbeholfene, abgesonderte Objekt, sondern ein Teil des Baums, und in meinem Kopf ist nichts als Wind und Himmel.
Ich lag da, schaute die Buche an und dachte nach. Wenn mein Dad recht hatte – wenn die Ärzte gesunde Babys zur Welt bringen konnten, obwohl deren Mütter schon tot waren –, konnte alles weitergehen. Die Menschheit würde nicht aussterben. Es gab eine Zukunft, und wenn wir uns anstrengten, um etwas zu verändern, hätten wir die Chance, etwas ganz anderes, Besseres aufzubauen. Ich erhob mich und legte eine Liste mit Möglichkeiten zur Energieeinsparung im Haus an.
Sonn t agabend
I ch überlege ständig, was ich tun soll. Zermartere mir das Hirn, wie ich ihn durch mein Verhalten überzeugen kann. Doch es fällt mir nichts ein. Wir vertreten vollkommen gegensätzliche Positionen. Was ich auch will, er wird mir in die Quere kommen. Tag und Nacht können sich niemals begegnen.
Dann kommt er und bringt mir eine Pizza mit, obwohl ich diesen Mist nicht esse – in einem Karton mit Polystyrol-Isolierung. Und einen Karton Orangensaft. Als er nicht da war, tat er mir leid, aber jetzt, da ich ihn sehe, macht mich sein Anblick rasend. »Geh weg! Geh weg! Geh weg!« Ich fege die Pizza in hohem Bogen auf den Boden. Er wirkt überrascht.
»Ich dachte, du wärst hungrig.«
»Das esse ich nicht!«, kreische ich. »Du kannst mich nicht hier einsperren.« Ich will mich auf ihn stürzen und ihn schlagen, stolpere aber wegen der Fahrradschlösser, und als er sich bückt und mir aufhelfen will, drehe ich mich herum und beiße ihn mit aller Kraft in die Hand. Ich packe ihn bei den Armen, grabe die Fingernägel hinein und versuche, die Füße herumzuschwenken und ihn zu treten. Er schreit auf, bringt sich in Sicherheit und hält sich die Hand. »Lass mich frei!«, schreie ich. »Du kannst mich nicht gefangen halten, lass mich frei!«
»Sei still«, sagt er. »Niemand hört dich.«
»Wie lange willst du mich hier festhalten? Soll ich ewig Junkfood essen und mein Geschäft auf einem Eimer erledigen? Glaubst du, das geht?« Ich krieche so schnell ich kann zum Eimer und werfe ihn um. Die Pisse fließt über den Boden. Ich wälze mich darin, bis meine Kleidung feucht ist, und als er wieder näher kommt, presse ich die Füße zusammen und trete ihn gegen das Schienbein.
Er weicht zurück. »Ich will das nicht tun. Ich will nur, dass du zur Vernunft kommst.«
»Du kannst mich nicht zwingen. Niemals. Ich hasse dich!« Ich packe den Pizzakarton und versuche, ihn zu werfen, doch er klappt auf und fällt auf den Boden. Aber die Schachtel mit der Soße hätte ich fast getroffen. Er geht schnell weg und schließt hinter sich ab.
Wenn ich das Fenster einschlagen und mich schneiden würde, müsste er mich ins Krankenhaus bringen. Er würde mich bestimmt nicht verbluten lassen, und dann wäre er gezwungen, etwas zu unternehmen. Ich versuche gerade, mich aufzurichten, als er zurückkommt und mich packt; ich gerate aus dem Gleichgewicht, und wir fallen beide um. Ich trete und kratze ihn im Gesicht, doch er ist stärker, bekommt meinen Arm zu fassen und dreht ihn mir auf den Rücken. Ich schreie. Ich schreie weiter, doch er packt auch noch den anderen Arm, kniet sich darauf und schlingt mir etwas um die Handgelenke. Fesselt mir die Arme auf den Rücken.
»Nein, nein, nein!«, brülle ich. Er zieht den Strick an und verknotet ihn, dann richtet er sich auf und stolpert von mir weg. Ich komme nicht hoch, weil ich mich nicht abstützen kann. Ich zappele am Boden wie ein Fisch auf dem
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