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Das Testament der Jessie Lamb: Roman

Das Testament der Jessie Lamb: Roman

Titel: Das Testament der Jessie Lamb: Roman
Autoren: Jane Rogers , Norbert Stöbe
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uns ein, es würde uns übel ergehen, wenn wir Entscheidungen treffen und die Verantwortung dafür übernehmen würden. Aber das stimmt nicht. Wirklich schlimm ist nur, wenn jemand anders Macht über einen hat.«
    »Hast du eigentlich nie Angst?«
    »Hör mal, wir dürfen uns nicht im Leben unserer Eltern einsperren lassen. Wie sollen wir rauskriegen, was wir können, wenn wir es nicht versuchen?«
    Lisa hat recht. Man kann etwas tun und sein Leben in die eigene Hand nehmen. Es ist niemals so schwer, wie man meint. Man kann sich befreien, man kann Verantwortung für sich selbst übernehmen. Das einzige Problem dabei sind die anderen Leute. Und damit meine ich nicht nur Mum und Dad.
    Auch Leute wie Baz sind ein Problem. Zunächst ging ich nur seinetwegen zu den Treffen. Wir machten ein paar richtig gute Sachen. Zum Beispiel die YOFI -Website; ich verfasste den Content, und Baz designte die Seite. Wir saßen Seite an Seite an dem großen Schreibtisch im Büro, probierten verschiedene Entwürfe aus, machten das Design benutzerfreundlicher, setzten Links, wählten Illustrationen aus. Wir arbeiteten so lange, bis alle anderen nach Hause gegangen waren und es ganz still und friedlich war. Wir schalteten das Licht aus, damit die Lampen sich nicht im Monitor spiegelten, unterhielten uns halblaut und machten Vorschläge, den Blick auf den leuchtenden Bildschirm gerichtet. Ich spürte seine Körperwärme. Einmal schaute er hoch und fragte: »Weshalb lächelst du?«, und ich zeigte auf sein rüttelndes Bein. Er fuhr zusammen, als wäre es ein Fremdkörper, und nach einer Weile setzte das Gerüttel wieder ein. Wir machten nichts, wir sagten nichts, doch es war ein wundervolles Gefühl, es aufzuschieben. Ich glaubte, wir warteten auf den Moment, bis wir YOFI so weit gebracht hätten, dass wir etwas würden bewirken können, und dann … dann hätten wir alle Zeit der Welt für uns.
    Doch anstatt zu wachsen und zu gedeihen, ging alles schief. YOFI war schon auf dem falschen Weg; die Leute stritten endlos über Prioritäten, die Zielsetzung und die nächsten Schritte. Der Flughafenprotest entwickelte sich zu einem Albtraum. Die Leute mussten sich eigene Tickets kaufen – das war der Plan. Es wäre bestimmt aufgefallen, wenn eine Einzelperson sechzig Tickets für Anschlussflüge erworben hätte. Wir einigten uns darauf, die Leute mit den Spenden zu entschädigen, die nach der Manchester-Demo bei uns eingegangen waren. Einige Leute hatten nicht genug, deshalb gab Mary ihnen das Geld vorab, doch sie kauften nicht gleich Tickets damit. Einige von denen, die ihre Teilnahme zugesagt hatten, stiegen aus, nachdem man ihnen Flüge und Flugzeiten zugeteilt hatte, sodass sich Lücken auftaten; ihnen wurde verspätet klar, dass man bei der Buchung persönliche Angaben machen musste, was bedeutete, dass die Polizei die Spur zurückverfolgen könnte. Da es bei der ganzen Sache um einen Protest gegen das Fliegen ging und YOFI die Verantwortung übernehmen würde, sah ich darin kein Problem. Das Durcheinander wurde immer schlimmer – verschlampte Tickets, zu viel ausgegebenes Geld, gegenseitige Schuldzuweisungen. Iain versprach, mir zu helfen.
    Er schenkte mir mehr Aufmerksamkeit in letzter Zeit. Ich musste mir keine Mühe geben, die Jungs zu unterbrechen. Er sah mich an und hob fragend die Brauen, ob ich etwas sagen wolle, und wenn ich nickte, forderte er sie auf, den Mund zu halten. Wenn wir Plenum hatten, stellte er seinen Rucksack neben sich auf den Stuhl, und wenn ich kam, nahm er ihn weg und bot mir den Platz an. Anfangs gefiel mir das; ich kam mir wichtig vor. Aber das dicke Ende sollte noch kommen.
    Wir hatten Transparente gemalt, und alle anderen waren schon gegangen. Iain war im Büro und schrieb Mails an andere Gruppen. Ich räumte auf. Die Transparente lagen auf dem Boden, und ich wollte sie erst dann wegnehmen, wenn die Farbe getrocknet war. Ich war in der kleinen Küche und wusch die Pinsel aus, als Iain hereinkam. Ich wusste, dass er es war, deshalb drehte ich mich nicht um. Ich sagte bloß: »Fertig?«, und er antwortete: »Ja«, und zwar erstaunlich dicht hinter mir. Dann kam er noch einen Schritt näher, und ich spürte seinen Atem im Nacken. Ich drehte den Hahn zu. Ich fixierte die Pinsel, die ich reinigte, fuhr langsam mit den Fingern durch die Haare, um die Farbe herauszudrücken, und starrte die blassrosa Wolken an, die sich im Spülwasser auflösten. Er stand direkt hinter mir, ich nahm seine Körperwärme wahr. Ich
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