Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Testament der Jessie Lamb: Roman

Das Testament der Jessie Lamb: Roman

Titel: Das Testament der Jessie Lamb: Roman
Autoren: Jane Rogers , Norbert Stöbe
Vom Netzwerk:
verrenkte mir den Hals, um ihm ins Gesicht zu sehen, und da wich er einen kleinen Schritt zurück, sodass ich mich umdrehen konn te. Dann drückte er mich gegen die Spüle und küsste mich, und ich bekam Herzrasen, so überrascht war ich. Mein Blick fiel auf seine Hände. Er hatte sie seitlich am Körper angelegt, als fürchtete er, sich an mir zu verbrennen. Er zerquetschte mich. Ich riss den Kopf weg, und da öffnete er die Augen, richtete sich auf und ließ von mir ab. Es entstand eine kleine Lücke zwischen uns, und ich bekam wieder Luft.
    »Nein«, sagte er. »Keine gute Idee.«
    Er drehte sich um, ging ins Büro und schloss hinter sich die Tür. Ich sammelte eilig meine Sachen ein und ging. Ich überließ es ihm, die Transparente zusammenzurollen. Auf dem Heimweg hatte ich heftiges Herzklopfen. So hatte ich ihn noch nie betrachtet. Einen kurzen Moment lang, als er mich gegen die Spüle drückte, hatte ich Angst gehabt. Aber haben wir nicht alle unsere Widersprüche? Einen Teil von mir zog es immer wieder zu dem Moment an der Spüle zurück, und ich stellte mir vor, wie es gewesen wäre, wenn ich den Kopf nicht abgewandt hätte. Wenn er mir die Hände auf die Hüfte gelegt hätte. Ja, wenn … Es war ein beschämendes und auch erregendes Gefühl.
    Niemand erfuhr von dem Vorfall, doch es veränderte die Beziehung zwischen Iain und mir. Fortan beobachteten wir uns mit Argusaugen. Ich errötete, wann immer ich in seine Nähe kam. Und eines Abends kam Baz darauf zu sprechen. Er schloss sich mir auf dem Weg zur Bushaltestelle an und fragte mich, wie ich Iain fände.
    »Ganz nett.«
    »Du magst ihn.«
    »Ich habe nicht gesagt, dass ich ihn mag. Ich habe gesagt, ich finde ihn ganz nett. Er kann gut Versammlungen leiten.«
    »Nats Gruppe kommt ohne ihn zurecht. Ohne einen Erwachsenen , der ihnen Vorschriften macht.« Er spielte mit einem Stock, den er unterwegs aufgehoben hatte, ruckte damit hin und her.
    »Hast du Kontakt mit Nat? Was macht er so?«
    »In der Nähe von Chester gibt es ein Tierforschungslabor, das sie infiltrieren wollen. Sie haben sich schon ein paar Wissenschaftler ausgeguckt.«
    »Aber du …«
    »Ich werde mich ihnen vielleicht anschließen. Der ständige Streit oder das Recyceln machen mich nicht so an.«
    »Aber was ist mit der Website?«
    »Die ist doch fertig, oder?«
    »Aber willst du auch nach Chester umziehen? Was ist mit dem Klavierspiel?«
    Er schwieg.
    »Baz? Spielst du noch?«
    »Wozu auch immer es gut sein mag. Ich bewerbe mich für ein Stipendium.«
    »Wo?«
    »In Salzburg. Da wird ein Stipendium für Pianisten unter siebzehn vergeben.«
    »Du würdest nach Österreich gehen? Wann?«
    »Im Januar. Wenn ich’s bekomme. Aber das wird nicht passieren.« Nach kurzem Zögern sagte er: »Hat Iain dich geküsst?«
    Und ich platzte wie ein Idiot heraus: »Ja.«
    »Ah, ja«, sagte Baz. »Ah ja, ah ja«, und dann fuhr er mit dem Stock am Geländer entlang, vor und zurück, in einem wahnsinnigen Rhythmus.
    Ich wollte sagen: »Das hatte nichts zu bedeuten«, aber da sagte er auf einmal: »Mein Dad hat keine Arbeit mehr.«
    »Wie das?«
    »Wegen der Noahs. Die Leute aus seiner Gemeinde haben sich den Noahs angeschlossen. Jetzt gehen sie alle zu diesen Lasst-uns-munter-klatschen-der-Herr-wird-uns- retten-Versammlungen.«
    Ich wollte ihm den Vorfall mit Iain erklären, hatte aber das Gefühl, ich würde ihm damit unverdient große Bedeutung beimessen. »Hat dein Dad sich nicht um die Hinterbliebenen gekümmert?«
    »Er hatte Streit mit ein paar Kirchenoberen. Es ging um den Umgang mit den Noahs. Er geriet mit ihnen aneinander und meinte, die könnten ihn mal.«
    Ich musste lachen, denn das war unglaublich peinlich. Baz ließ den Stock weiter über das Geländer rattern. Er sagte, er habe genug von YOFI , er wolle weg.

Mon t agmorgen
    I ch sitze vor dem Fenster auf dem Boden und schaue zum Morgenhimmel hoch. Die Tage werden allmählich länger – jeden Tag bricht der Morgen ein bisschen früher an. Der purpurblaue Ausschnitt, den ich sehe, ist wolkenlos, deshalb wird heute vielleicht die Sonne scheinen. Gestern Abend hat er ewig lang telefoniert, mit Mum, glaube ich. Vielleicht hat sie ihm gut zugeredet, denn anschließend hat er mir die Arme losgebunden. Wir haben beide kein Wort gesagt, er ging gleich wieder weg und verschloss die Tür. Ich kroch zum Heizkörper, lehnte mich dagegen und ließ meine Sachen trocknen. Inzwischen mag ich den Geruch beinahe.
    Ich begreife nicht, weshalb er nicht zu mir
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher