Das Testament der Jessie Lamb: Roman
blickte starr ins Leere, doch ihre Augen glitzerten. Behutsam legte ich ihr die Hand auf den Arm, und sie ließ es sich gefallen. Ich dachte an die Kerle im Auto und den Typ, der mich angespuckt hatte. Ich dachte daran, wie Sal in der nach Lavendel duftenden Wanne gesessen und sich geschrubbt hatte.
Dann sprachen sie darüber, wie die MTS -Frauen in aller Welt behandelt würden, dass man einige wie Hunde auf der Straße habe sterben lassen oder dass sie interniert, fehlinformiert oder von der Polizei drangsaliert worden seien – wären die Betroffenen Männer gewesen, wäre all das nicht passiert. Sie meinten, wenn die Krankheit Männer befallen würde, hätten die Forscher längst ein Heilmittel entwickelt. Die schrecklichen Behauptungen wirbelten wie Laub durch meinen Kopf. Ich konnte die Gedanken nicht zum Schweigen bringen. Die Behauptung, Männer wären lieber schwul, erinnerte mich ans College.
Irgendetwas war tatsächlich anders geworden. Sagte man in der Zeit vor MTS von einem Jungen, er sei schwul, war das eine Beleidigung. Alle wussten, dass es Schwule gab, dass es legal war und überhaupt, und im TV sah man jede Menge schwule Berühmtheiten. Wenn man im richtigen Leben einem schwulen Paar begegnete, behandelte man es höflich, doch auf der Uni war es eine Beleidigung. Nannte man einen Jungen schwul, war das herabsetzend gemeint. Und die Jungs und Mädchen, die tatsächlich homosexuell waren, hielten das geheim. Man sah es einem einfach nicht an. In den Monaten nach dem Ausbruch von MTS aber änderte sich das. Es geschah so allmählich, dass es einem fast nicht auffiel.
Jungs bildeten Grüppchen mit Jungs und Mädchen mit Mädchen. Einige Mädchen bekamen Angst vor Jungs – obwohl wir alle Implanon nahmen, war die Vorstellung trotzdem bedrückend, zumal für diejenigen, die eine Frau kannten, die gestorben war. Sex war das Risiko anscheinend nicht wert. Und die Jungs – also, ich wusste nicht, was sie dachten, aber die Atmosphäre veränderte sich. Sie blieben für sich und gaben sich weniger Mühe, uns zum Lachen zu bringen. In gewisser Weise wurden sie schüchterner. Das galt nicht für alle; es gab auch welche, die sich genau entgegengesetzt verhielten. Wie zum Beispiel die Gangs, bei denen man häufig Jungs und Mädchen zusammen sah – oder auch Sal und Damien zu Beginn ihrer Beziehung. Die Leute wechselten von einem Extrem ins andere, als wüssten wir nicht mehr, wie wir uns verhalten sollten.
Ich erinnere mich an einen besonders sonnigen Nachmittag, kurz nach Semesterbeginn. Bis zur Französischvorlesung war noch etwas Zeit. Ich schaute in der Bibliothek vorbei, und wegen der Fenster, die vom Boden bis zur Decke reichten, war es dort so heiß wie in einem Gewächshaus. Es war niemand da, nur die rotgesichtige Bibliothekarin, der das schweißnasse Haar am Kopf klebte. Ich ging zum Hinterausgang raus, um ein Sonnenbad zu nehmen, während ich die Vokabeln durchging. Ich wollte mich gerade auf die Treppenstufen hinter der Turnhalle setzen, doch als ich den Blick übers Spielfeld schweifen ließ, bemerkte ich mehrere Studenten, die entlang der Hecke im Gras lagen. Ich hoffte, dort jemand anzutreffen, den ich kannte, außerdem wäre ich vor der prallen Sonne geschützt. Der Rasen war vor Kurzem gemäht worden, und der Duft des frisch geschnittenen Grases war verlockend. Im Gehen musterte ich die Sonnenbadenden, doch als ich ihnen näher kam, stellte ich fest, dass es ausschließlich Jungs waren. Sie hatten sich das T-Shirt ausgezogen, um sich zu bräunen. Ich wurde verlegen, blickte zur Spielfeldecke, die ich ansteuerte, und ging so schnell ich konnte, als hätte ich die Jungs gar nicht bemerkt. Ich legte mich auf den Rasen und wandte ihnen den Rücken zu, vor mir das aufgeschlagene Vokabelbuch. Ich hörte sie flüstern und lachen. Sie stachelten welche an, drängten sie, irgendetwas zu tun.
Ich konzentrierte mich auf mein Buch und schreckte zusammen, als ein Schatten auf die Seite fiel. Ich schaute auf. Vor mir standen zwei Händchen haltende Jungs, dunkle Schatten im Gegenlicht.
»Entschuldigung«, sagte der eine, und der andere lachte. »Das Sonnenbad ist privat.«
»Schwulenstrand«, meinte der andere grinsend.
»Für Mädchen verboten«, sagte der Erste. Ich hörte die anderen lachen. Als ich meine Sachen aufsammelte, blickte ich mich unwillkürlich zu ihnen um, sah ihre höhnischen Gesichter und ihre geröteten nackten Oberkörper, erhaschte einen Blick auf nackte Beine und Pos. Ich
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