Das Testament der Jessie Lamb: Roman
Generationen schon Hunderte Menschen. Aber es würde schon eher Auswirkungen haben. Es hätte Auswirkungen auf die Menschen, die kleine Kinder entführten und mit ihnen handelten. Auf die Noahs. Auf die Selbstmordrate. Die Männer, die Frauen für schmutzig hielten. Die FLAME -Frauen, die Männer hassten. Die Wissenschaftler, die furchtbare Tierexperimente durchführten, und die Tierbefreier, die sie bekämpften. Es hätte Auswirkungen auf die Sichtweise aller Menschen, denn auf einmal gäbe es wieder Hoffnung.
Mary warf mir ein blaues Seidenkleid zu. Es war schwer und glatt und hatte die Farbe des Himmels an einem wolkenlosen Sommerabend. Ich zog den Pullover aus und streifte mir das Kleid über T-Shirt und Jeans. Es war altmodisch geschnitten, eng an der Brust und weiter unten ausgestellt, und die wunderschönen Falten reichten mir bis zur Wadenmitte. »Wow!«, sagte Mary. »Seht mal!« Die anderen hielten inne und schauten mich an. Jemand pfiff bewundernd, die anderen klatschten. Ich drehte mich um die eigene Achse. Die schwere, wirbelnde Seide fühlte sich kühl an, und das gefiel mir. Ich fand einen braunen Rock mit cremefarbenen Stickereien und reichte ihn an Mary weiter. Ahmed zog einen orange- und goldfarbenen Kaftan an. Alle suchten sich in den Kleiderhaufen etwas Passendes aus. Der alte Song, der als Nächstes kam, traf bei mir aufWiderhall. Love, love will tear us apart again . Es war der traurigste Song, den ich je gehört hatte.
»Jessie! Jessie! Sieh mal!« Mary hatte einen kleinen schwarzen Hut mit leuchtend blauen Federn entdeckt. Sie waren wunderschön, wanden sich um den Hut und bildeten ein blaues Muster vor samtschwarzem Hintergrund. Wir bewunderten uns gegenseitig, streckten die Arme ab, reckten die Hälse und stellten uns zur Schau, stolzierten umher und nahmen Posen ein wie Models auf dem Laufsteg. Ich überlegte, wer mein Kleid wohl getragen haben mochte. Ich hatte ein eigenartiges Gefühl, als wäre das Kleid ein Körper. Ein leichter, wirbelnder, tanzender Körper. Und nach mir würde jemand anders das Kleid tragen. Ich dachte, wenn man so viel mit einem Kleid weitergeben kann, wie viel lebt dann von einem Menschen weiter, wenn er stirbt? Wie viel fließt auf verschiedenen Wegen in alle anderen ein, durch das, was er gesagt, getan und erschaffen hat? All die leblosen Kleider konnten wieder zum Leben erwachen, wenn jemand sie anzog. Ich dachte, eigentlich ist der Tod keine große Sache. Ich könnte sterben, ohne dass es mir viel ausmachen würde.
Wer werden die Freiwilligen sein?, fragte ich mich immer wieder. Mary hatte eine lederne Weste angezogen und ein Paar schwarze Abendhandschuhe. Sie kam zu mir und verbeugte sich, und dann schritten wir Arm in Arm um die Kleiderstapel herum, verneigten uns vor den anderen und machten Knickse. Die Freiwilligen würden Mädchen wie ich sein, denn die Frauen mussten jung sein. Je jünger, desto besser. Ich hakte mich bei Mary aus und setzte mich auf die Bühnentreppe. Ich streichelte die Seide meines Kleids, strich sie über den Jeansschenkeln glatt. Ich dachte an die Stammesleute, von denen Dad erzählt hatte, an die Meriahs, denen es vorbestimmt ist, geopfert zu werden, die in dem Bewusstsein leben, dass sie etwas Besonderes sind, und glauben, das Leben der anderen zu retten. Sie halten das für ihre Bestimmung. Es ist ihre Bestimmung. Und ich dachte, kann es ein besseres Leben und einen besseren Tod geben?
Ich war nicht betrunken, aber ich schwebte über dem Boden, weit darüber, und blickte auf die Kleiderberge mit ihren abgelegten Leben und auf die geschäftigen YOFI -Mitglieder hinab, die Kleidungsstücke von einem Haufen auf den anderen warfen oder sie anzogen und umhertanzten, und das alles hatte nichts mit mir zu tun, denn ich hatte etwas Wichtigeres vor. Ich wusste, dass mir das Wissen der anderen Menschen, die sich aufgeopfert hatten, zugänglich war. Das Wissen anderer Freiwilliger, die für ihr Volk gestorben sind. Das Wissen der Selbstmordattentäter, die sich Sprengstoffgürtel umschnallen. Das Wissen der jungen japanischen Kamikazepiloten, die sich Seidenschals um den Hals geschlungen haben. So wie ich das Seidenkleid angelegt hatte. Und mit ihm ihre Kraft und Gewissheit. Meine Bestimmung.
Ich weiß nicht mehr, was ich in der Nacht geträumt habe, doch ich erinnere mich noch, dass ich beim Aufwachen das Gefühl hatte, irgendwo tief unten gewesen zu sein. Auf dem Grund eines sehr tiefen blauen Gewässers, des Meeres, immer tiefer
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