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Das Testament der Jessie Lamb: Roman

Das Testament der Jessie Lamb: Roman

Titel: Das Testament der Jessie Lamb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jane Rogers , Norbert Stöbe
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Heizkörpers; der Ruf einer Eule, das Rauschen in der Leitung, als nebenan jemand das Wasser aus der Wanne ließ. Wenn er einen Unfall gehabt hatte, hätte jemand ihn gefunden und ins Krankenhaus gebracht; dort hätte man in seiner Brieftasche nachgeschaut, und die Polizei hätte die Angehörigen verständigt. Er hatte keinen Unfall gehabt. Er wollte nur seinen Aufenthaltsort nicht preisgeben.
    Ich dachte daran, wie wir uns beim YOFI -Treffen verkleidet hatten und umhergetanzt waren, wie ich mich in dem blauen Kleid um die eigene Achse gedreht hatte. Ich dachte an die jungen Frauen, die ihr Leben opferten. Wie klar und einfach und gut war das doch im Vergleich zu dem blödsinnigen Durcheinander der Ehe mit ihren ganzen Lügen und Streitereien. Warum antwortete er nicht auf meine SMS ? Er ahnte bestimmt, dass ich über Mum Bescheid wusste. Vielleicht wollte er mit uns beiden nichts mehr zu tun haben.
    Irgendwann nach fünf war ich wohl eingeschlafen, denn als die Ziffern auf halb zehn umsprangen, erwachte ich jäh. Mum war weggegangen und hatte wieder auf einen Zettel geschrieben, dass sie abends kochen wolle. Mir juckten die Augen, und vor Müdigkeit hatte ich Kopfschmerzen, doch ich wollte nicht zu Hause bleiben. Ich überlegte, ob ich mit Sal sprechen sollte, befürchtete aber, sie könnte einfach sagen: »Na und?« Und sie hätte recht damit – was machte es schon, wenn sie sich trennten? Ihre Eltern hatten sich auch getrennt, so etwas kam vor. Dumme Erwachsene; ihre Tage waren gezählt.
    Ich erwischte den Bus zum College und setzte mich oben in die vordere Sitzreihe. Der Himmel war bewölkt, und durch das Fenster wirkte alles flach und nüchtern, wie ein Tatort. Wie ein Ort, der darauf wartete, dass sich etwas Schlimmes ereignete. Wie ein eingefrorener Trickfilm. Ich dachte, eine Schlafende Schöne merkt von alledem nichts. Tot zu sein, der Zustand des Totseins, wäre okay – genau das Gleiche wie vor der Geburt. Ein traumloser Schlaf. Ich traute es mir zu – dann käme nichts mehr an mich heran. Kein Ärger mehr über dumme Eltern, keine Verschwendung mehr von Energie und Gefühlen. Nur noch Friede und Ruhe. Dann auf einmal sah ich Dad. Er ging allein über den Gehsteig, und hinter ihm näherte sich der Bus. Ich erkannte ihn an den Schultern und seinem ausgreifenden Gang. Als ich hochsprang und der Bus an ihm vorbeifuhr, sah ich sein Gesicht. Es war gar nicht Dad. Es war ein Mann mit Schnäuzer.
    Ich ließ mich in den Sitz zurückfallen, das Herz trommelte mir gegen den Brustkasten. Wollte Dad sich vielleicht umbringen? Der Gedanke tauchte auf, bevor ich ihn verdrängen konnte. Vielleicht war das der Grund, weshalb er nicht mit mir sprechen wollte – er hatte die Hoffnung verloren. Wegen Mum, wegen MTS , weil alles schiefgegangen war. Ich rief erneut sein Handy an. Er ging nicht dran. Ich dachte an den Abend, als er und Mum Mandy in unser Haus gebracht hatten. Sie hatten sie in die Mitte genommen und mussten sie halb tragen, und Mum hatte sie im Gästezimmer ins Bett gelegt. Dad hatte an der Spüle gestanden und wie hypnotisiert den Wasserkessel angestarrt, als könnte er darin die Zukunft lesen. Und jetzt glaubte er, auch ich hätte ihn verraten. Er musste glauben, wir hätten keine Ahnung, wie es in ihm aussah, und er wäre uns egal, weil wir nicht einmal versucht hatten, ihn zu finden.
    An der Guide Bridge stieg ich aus und fuhr mit der Bahn in die Stadt. Vom Bahnhof aus fuhr ich mit dem Bus zur Klinik. Er war doch bestimmt zur Arbeit erschienen? Auf dem Parkplatz hielt ich Ausschau nach unserem Wagen, doch ich sah ihn nicht. Den Laboreingang konnte ich nicht benutzen, denn ich kannte den Zahlencode nicht. Ich musste das Gebäude an der anderen Seite durch den Vordereingang betreten. Der Wachmann musterte mich argwöhnisch, doch als ich ihm meinen Namen nannte, grinste er und nickte. »Hab Sie schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen!« Als ich im Gebäude war, wurde ich ruhiger; auf dem Flur war es still, an jeder Tür stand ein Name – ich begegnete einer Krankenschwester mit einem Tablett, sie zwinkerte mir zu. Als ich über die Treppe zu den Labors hinuntereilte, stieg mir der wohlbekannte Geruch in die Nase. Er erinnert ein bisschen an Alkohol und macht die Nase frei. Ein warmer Geruch, der den dunklen Duft der Holztische betont. Hier würde ich Dad bestimmt finden.
    Doch er war nicht da. Die Tür zu seinem Labor war verschlossen – kein Dad, kein Ali. Ich versuchte, durch das kleine

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