Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Testament der Jessie Lamb: Roman

Das Testament der Jessie Lamb: Roman

Titel: Das Testament der Jessie Lamb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jane Rogers , Norbert Stöbe
Vom Netzwerk:
sinkend durch immer dunklere Wasserschichten, die alle Schattierungen der Farbskala durchliefen, Türkis, Blaugrün, Aquamarin, Königsblau, Marineblau, Dunkelblau, Mitternachtsblau, und es wurde immer dunkler und dunkler, doch ich empfand keine Angst, sondern staunte bloß über die Tiefe und die Intensität der Farben. Ich wusste, dass ich dann, wenn ich es wollte, wie ein Korken wieder auftauchen würde.
    Was ich beim Aufwachen auch tat. Und ich wunderte mich, weshalb ich mich in meinem gewohnten Zimmer befand. Ich erinnerte mich, dass ich überlegt hatte, mich freiwillig zu melden.
    Ich stellte mir vor, mich als Schlafende Schöne zu bewerben. Einzuschlafen und nicht wieder aufzuwachen. Ich konnte mir noch immer nicht recht vorstellen, wie man sich dafür freiwillig zur Verfügung stellen konnte. Mir war innerlich weit zumute, als gäbe es in meinem Kopf jede Menge Raum für widersprüchliche Gedanken. Weit und aufgeregt. Ich überlegte, ob ich mit Baz sprechen sollte. Ich hatte das Gefühl, jeden Moment könnte etwas Außergewöhnliches geschehen.

14
    Es passierte etwas Außergewöhnliches, doch es war nicht gut. Als ich am Abend Babys der Woche schaute, hörte ich Mum und Dad in der Küche streiten. Ich stellte den Fernseher lauter, den ich liebe die Sendung. Sie wird von den Müttern für das Leben gemacht. Sie zeigen Fotos der Babys und von deren Müttern, bevor sie schwanger wurden. Jemand, meistens die Mutter einer Schlafenden Schönen, liest ein Gedicht oder aus der Bibel oder dem Koran vor. Man kann sich das Gedicht selbst aussuchen, aber es gibt auch welche, die eigens für den Anlass geschrieben wurden, und das hier mag ich am liebsten:
    Schlaf gut, liebe _____, in der kalten, dunklen Gruft.
    Du gabst dein Leben tapfer.
    Dein leuchtend helles Opfer
    Strahlt wie ein Stern im Leben deiner Frucht.
    Manche wünschen sich ihren Lieblingssong. Ich stellte mir vor, dass ich in der Sendung wäre, und überlegte, welches Foto von mir sie wohl verwenden würden. Ich schaute mir alle Babys an. Eines sah aus wie ein Äffchen, mit flaumigem schwarzem Haar und ernsten Augen. Ein anderes hatte einen kahlen Kopf und dicke Hamsterbacken. Ich mag es, wenn sie einen mit diesem trüben Blick anschauen, als würden sie sich fragen: »Bin ich jetzt auf der Welt?« Nach den Babys kamen weitere Nachrichten: Brandstiftung, Selbstmorde, Hungersnöte und Kämpfe, wie gewöhnlich; ein Putsch in Malaysia, Notstand in Pakistan, Unruhen in Washington; Angriffe auf die Wohnhäuser britischer Forscher, die Tierexperimente durchführten; Terrorverdächtige, die gegen die Inhaftierung ohne Prozess Berufung einlegten; ein neues chinesisches Programm für die Anwerbung Schlafender Schö ner, dem sich pro Woche fünftausend junge Frauen anschlossen; die Verlegung von Arbeitskräften in den Pflegedienst; Überschwemmungen in Indien; und natürlich ein Beitrag über eine gesunde Schwangere in Nigeria, die an einem geheimen Ort von ihren Unterstützern am Leben erhalten werde. Es gab immer eine solche Meldung, aber seltsamerweise wurde die Frau nie gezeigt, und man erfuhr auch nie, dass sie ihr Kind zur Welt gebracht hätte. Es waren alle möglichen Gerüchte in Umlauf, wie Frauen ihre Schwangerschaft angeblich überlebt hatten: mithilfe von Diäten, speziellen Kräutern, unablässigen Gebeten an die Jungfrau Maria, mit Kannibalismus, einer sterilen Umgebung, unter Wasser, Meditation, Hypnose, Voodoo, Akupunktur, Fasten, dem Aufenthalt in großer Höhe, Blutopfern an die Muttergöttin. Merkwürdig nur, dass man diese gesunden Schwangeren nie zu Gesicht bekam!
    Ich verlor das Interesse, und jetzt hörte ich, dass Mum und Dad keinen gewöhnlichen Streit hatten. Mum weinte, weshalb sie schwer zu verstehen war. Ich hätte es dir nicht zu sagen brauchen? Ich stellte den Ton ab und schnappte meinen Namen auf; Dad mit gesenkter Stimme: W eiß Jessie davon? Dann zerschellte ein Teller auf den Fliesen. Ich schlich mich zur Tür und legte das Ohr daran.
    »Du hast mich nie angeschaut …«
    »Dann ist es also meine Schuld. Wie du es auch drehen und wenden magst, Cath ist das Opfer …«
    »Nein … hör zu … Joe …«
    »Weshalb sollte ich dir zuhören? Weshalb sollte ich mir auch nur ein einziges Wort von diesem verlogenen Scheiß anhören?«
    Es folgte eine grauenhafte Stille, und ich spitzte die Ohren, hörte aber trotzdem nichts – dann wurde die Küchentür aufgerissen, Schritte im Flur, die Haustür wurde zugeworfen, und der Wagen sprang mit

Weitere Kostenlose Bücher