Das Testament der Jessie Lamb: Roman
brüllendem Motor an.
Ich erstarrte, wartete auf das nächste Geräusch, doch da kam nichts. Dad war weg. Auf Zehenspitzen schlich ich nach oben. Ich wusste, worum es gegangen war, und wollte Mum nicht unter die Augen treten. Ich schloss hinter mir leise die Zimmertür und setzte den Kopfhörer auf, damit ich sie nicht hörte, wenn sie mich rief. Ich wusste schon seit Wochen Bescheid. Ich hätte dem Ganzen ein Ende machen können – ich hätte Mum sagen können, dass ich Bescheid wusste, hätte sie unter Druck setzen können, damit sie es Dad erzählte. Aber ich hatte es lieber verdrängt (der Zettel in der Tasche? Die neue Hose? Der freie Tag mit den »Kollegen«?), als hätte es nichts mit mir zu tun. Weiß Jessie davon? Wollte er wissen, ob ich Bescheid wusste? Wenn er nun glaubte, ich wüsste etwas und würde es vor ihm geheim halten, weil ich mit Mum unter einer Decke steckte?
Natürlich glaubte er das. Jetzt, da er über vereiste Straßen jagte und die schwarze Nacht an den Fensterscheiben vorbeibrauste, würde er sich die gleichen Gedanken machen wie ich – die Spätschichten in der Klinik, die schicken Klamotten, die angeblichen Treffen mit Mandy –, und er würde glauben, ich wüsste Bescheid und würde ihr helfen, ihre Lügen zu bemänteln. Er würde glauben, ich wäre ebenso schlimm wie sie.
Ich wollte mitbekommen, wann er zurückkam. Ich nahm den Kopfhörer ab, schaltete das Licht aus und legte mich ins Bett. Irgendwann kam Mum die Treppe hoch. Sie verharrte eine Ewigkeit lang im Flur, dann ging sie ins Bad und anschließend auf ihr Zimmer. Das Flurlicht hatte sie angelassen. Ich lag stocksteif da und horchte auf den Wagen, versuchte ihn dazu zu bewegen, auf unsere Straße einzubiegen. So lag ich stundenlang da und stellte mir vor, wie Dad von der Straße rutschte, wie schwarzes Wasser über dem Wagendach zusammenschlug, während die Scheinwerfer verdutzte Fische beleuchteten, unten am schlammigen Grund des Flusses.
Ich überlegte, ob ich ihn ansimsen oder anrufen sollte, fürchtete aber, damit einen Unfall zu provozieren, falls er noch unterwegs war. Die ganze Nacht lag ich wach, und als Mum morgens leise an meine Tür klopfte und sie dann öffnete, tat ich so, als würde ich schlafen. Irgendwann hörte ich sie aus dem Haus gehen. Als ich nach unten kam, hatte sie mir einen Zettel hingelegt: Sie werde um sieben nach Hause kommen und dann kochen. Kein Wort zu Dad. Wahrscheinlich hoffte sie, er werde wieder auftauchen und den Zettel sehen.
Nach dem Duschen zog ich frische Wäsche an. Ich hatte keine Ahnung, ob sie sich getrennt hatten. Einerseits wollte ich es wissen, gleichzeitig aber war es mir egal. Ich starrte eine Weile das Handydisplay an, dann simste ich: »Dad alles OK ? xoxoJ« Als ich am College ankam, war noch keine Antwort eingetroffen, deshalb stellte ich das Handy stumm. Den ganzen Tag lang antwortete er nicht. Und Sal war nicht zu den Vorlesungen erschienen.
Als ich heimkam, war alles unverändert. Ich wollte nicht mit Mum zusammen essen, deshalb machte ich mir ein Sandwich und nahm es mit aufs Zimmer. Ich rief in Dads Labor an, doch dort nahm niemand ab. Nach einer Weile rief ich ihn auf dem Handy an, doch es schaltete sich gleich die Mailbox ein. Das war seltsam, denn bisher hatte er es noch nie abgestellt.
Als Mum nach Hause kam, rief ich nach unten, ich hätte schon gegessen. Sie kam hoch und klopfte bei mir an, und ich sagte, ich wolle nicht reden. Sie öffnete die Tür trotzdem.
»Hast du von Joe gehört?«
»Nein.« Ich konnte sie nicht ansehen.
Den ganzen Abend blieb ich auf meinem Zimmer. Ich hörte, wie Mum unten umherging, und als ich sie reden hörte, öffnete ich die Tür und lauschte. Doch sie unterhielt sich nur mit Paul, dem Pfleger. Sie erkundigte sich, ob Mandy gegessen habe und ob er mit ihr spazieren gewesen sei. Als sie mit Mandy sprach, war ihr Tonfall aufgesetzt munter: »Prima, gut gemacht! Ich bin ja so froh.« Dann kehrte im Haus wieder Stille ein. Alles wartete auf das Klingeln des Telefons oder das Brummen eines Automotors in der Einfahrt.
Mum blieb bis Mitternacht auf; nach dem Aufenthalt im Bad stand sie eine Weile lauschend vor meiner Tür. Ich rührte mich nicht, bis sie auf ihr Zimmer ging und die Tür hinter sich schloss.
Mein Fenster stand offen, und ich hörte die auf der Hauptstraße vorbeifahrenden Autos. Es waren nicht viele, und seins war nicht darunter. Da waren noch viele andere Geräusche, das Ticken und Klicken des abkühlenden
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