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Das Testament der Jessie Lamb: Roman

Das Testament der Jessie Lamb: Roman

Titel: Das Testament der Jessie Lamb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jane Rogers , Norbert Stöbe
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gelegt, wie einen Luftballon aufgeblasen und dann mit einem Schlag platzen lassen. Der Knall war laut genug, um einen in Panik zu versetzen, wenn man nicht schon welche hatte. Ich schaltete mein Handy ein und starrte es an, während das Display hell wurde. Keine Nachrichten.
    Ich sagte mir, ich könne laufen. Wenn ich nur schnell genug ging, würde ich im Getöse der Straße aufgehen, im dahinströmenden Verkehr, im fernen Gellen der Sirenen, würde untergehen und darin verschwinden, von der nächsten anrollenden Woge verschluckt werden. Je schneller ich ging, desto regelmäßiger müsste mein Herz schlagen, denn es konnte mir nicht aus der Brust springen wie ein verrückter Frosch; schließlich musste es seine Arbeit tun.
    Am Rande des Gehsteigs stöhnte leise ein Mann. Ich sah im Vorbeieilen seine Füße; er trug Frauenstiefel aus Wildleder mit Pelzbesatz. Ich wünschte, alle diese Männer würden mitsamt ihrem Elend einfach verschwinden. Es war mir zuwider, an unbewohnten Häusern vorbeizugehen. Zerbrochene Fenster, eingetretene Türen, jemand hatte im Vorgarten ein Feuer gemacht, und da stand ein halb verbranntes Sofa mit herausquellenden Federn. Ich schob mir die Mütze in die Stirn, schlug den Kragen hoch und ging schneller. Praktisch rannte ich. Von der nächsten Straßenecke an waren die Häuser bewohnt, mit ordentlich gestutzten Hecken und Rollläden, da konnte ich wieder langsamer gehen.
    Jetzt endlich formte sich der Gedanke und wärmte mich von innen wie ein glühendes kleines Geheimnis, das ich verschluckt hatte, eine geröstete Kastanie. Ich hatte es getan! Ich hatte es tatsächlich getan!
    Die Straßensperre sah ich zu spät. Wenn sie einen erst mal bemerkt haben, wirkt es verdächtig, wenn man umkehrt. Ich wartete hinter einer Frau mit Einkaufstüte, sie war ungeduldig und versuchte die Polizistin auf sich aufmerksam zu machen. Die Polizistin aber durchsuchte gerade einen merkwürdigen Typ und war gefordert, weil er sie begrapschen wollte. »Strecken Sie bitte die Hände gerade aus. Ganz gerade.« Und: »Behalten Sie die Hände bei sich, Sir, vielen Dank.«
    Sie tastete oberflächlich seine Kleidung ab, er hätte einen Sprengstoffgürtel tragen können, ohne dass sie es bemerkt hätte. Sie wollte ihn einfach nur loswerden. Die vor mir stehende Dame sagte: »Ich war bloß einkaufen, Officer. Ich muss nach Hause; meine Enkelin wird bald aufwachen …« Die Polizistin winkte sie durch. Und dann hatte sie natürlich ein schlechtes Gewissen, leerte meinen Rucksack aus und blätterte sämtliche Bücher und Mappen durch, dann meinte sie, ich solle alles wieder einpacken. Die ganze Wärme, die ich erzeugt hatte, verflüchtigte sich, und mir war nach Weinen zumute. Am liebsten hätte ich sie gefragt: Dürfte ich den Nachmittag über in Ihrem Wachhäuschen bleiben, mich so lange darin verkriechen, bis ich mir über meine Gefühle klar geworden bin?
    Nieselregen setzte ein, eiskalte Nadeln an meiner Haut. Am Bahnhof suchte ich mir auf dem Fahrplan den Zug nach Ashton heraus und ging über den schmutzigen Vorplatz zur Treppe, die zum Bahnsteig 4 hochführte. Mich überkam ein seltsames Gefühl. Ich war schon Hunderte Male hier gewesen, hatte den trockenen, bitteren Bahnhofsgeruch eingeatmet und die ständigen Ansagen, dass herrenlose Koffer zerstört würden, den Lärm der Züge und das Piepen der sich öffnenden Türen über mich ergehen lassen, war über den geborstenen, im nassen Zustand rutschigen Boden mit den gelben Warndreiecken gegangen und hatte mich bemüht, alles Hässliche auszublenden. Wie würde es sein, das alles nie mehr wiederzusehen? Man will es nicht sehen, es ist schrecklich. Aber wenn man sich vorstellt, es nie wieder zu sehen, will man es doch wieder an sich heranlassen.
    Ich riss mich zusammen. Warf einen Blick aufs Handy. Stieg die Treppe zur Überführung hoch und an der anderen Seite zum Bahnsteig hinunter. Aber ich starrte alle an, die mir begegneten; ich dachte, ich kenne euch nicht und werde euch wahrscheinlich nie wiedersehen. Eine seltsame Vorstellung, dass ich nie die Möglichkeit haben werde, diese Unbekannten jemals kennenzulernen.
    Der Zug fuhr ein und schob eine Hitzewolke vor sich her. Ich ließ mich auf einen Sitz fallen und beschwor die Klinik herauf. In mir war ein kraftvoller, leuchtender Kern, den außer mir niemand sehen konnte, so wie den glühenden Erdkern. Er setzte sich zusammen aus Mr. Goldings klugem, freundlichem Gesicht, dem klaren Weg, den wir beschreiten

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