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Das Testament der Jessie Lamb: Roman

Das Testament der Jessie Lamb: Roman

Titel: Das Testament der Jessie Lamb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jane Rogers , Norbert Stöbe
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an, ein glatter Wasserhügel rollt auf einen zu. Und wenn er einen erreicht, lässt er seine Kraft nicht an einem aus. Er hebt einen einfach an. Er hebt einen an und trägt einen, und man schwimmt ins Meer hinaus.«
    »Du hast angefangen, in MTS zu schwimmen?«
    »Stell dich nicht dümmer, als du bist.«
    »Und wo ist bei all dem Gewoge die Entsprechung für das Sich-freiwillig-Melden? Oder ist das der Tsunami, in dem du ertrinken wirst?«
    »Es geht darum, sich abzufinden mit dem, was geschieht, und entsprechend damit umzugehen.«
    »Deine Metaphern sind ebenso unlogisch wie dein Denken.«
    Ich schwenke den Rest Kakao im Becher und versuche, den Bodensatz aufzulösen. Ich wünschte, er würde mich verstehen. Ich wünschte, das würde aufhören. »Kann ich mit Mum sprechen?«
    »Warum?«
    »Ich will halt.«
    »Ist gut.« Er wählt die Nummer auf seinem Handy und reicht es mir. Wie viel Zeit bräuchte ich, um die Notrufnummer 999 zu wählen? Bevor er mir das Handy wegnimmt? Wenn er es mir nur eine Minute überlässt, könnte es klappen.
    »Hallo?«
    »Mum.«
    »Jessie! Wo steckst du?«
    »Was glaubst du?«
    »Ist alles in Ordnung? Ist Joe da?«
    »Er ist da. Er hat gemeint, ich darf dich anrufen.«
    »Du bist jetzt zornig, Jess, aber glaub mir, auf lange Sicht wirst du das anders sehen.«
    »Das glaube ich nicht.« Ich linse nach der Neun, während ich mir das ungewohnte Handy ans Ohr halte. Mum sagt etwas, ich kann ihr nicht folgen. »Wie bitte? Was hast du gesagt?« Ich schiebe das Handy langsam in mein Blickfeld und lege den Daumen auf die Neun. Den Anruf beenden – ihn beenden und dann …
    Dad beugt sich vor und nimmt es mir weg. »Das reicht.« Er hält es sich ans Ohr. »Cath, tut mir leid. Aber ich traue ihr nicht, wenn sie das Handy hat. Ich ruf dich später an. Ja. Alles in Ordnung.«
    »Was glaubst du, hätte ich tun können?«, frage ich wütend.
    »Das, was du vorhattest.«
    »Du kannst keine Gedanken lesen.«
    »Nein, aber ich wünschte, ich könnte es, denn dann würde ich dich vielleicht verstehen.«
    »Ich wünschte das auch.« Das Ärgerlichste an dem Raum ist, dass es keine Vorhänge gibt. Das Licht, das sich bei Nacht auf einem Fenster spiegelt, durch das man nicht hinaussehen kann, hat etwas Trostloses. Eine glänzende schwarze Sackgasse. Ich würde lieber im Dunkeln sitzen und reden, wenn ich nur den Himmel draußen sehen könnte.
    Ich will nicht über die Dunkelheit nachdenken. Was man wissen muss, ist, dass das Licht sich verändert. Alles verändert sich. Auch wenn das Fenster von innen betrachtet schwarz wirkt, gibt es draußen doch Licht. Eine andere Art von Licht. »Erinnerst du dich noch an die Glühwürmchen?«
    Er sieht mich verständnislos an.
    »In Cornwall? Als wir dort Urlaub gemacht haben.«
    »Die Glühwürmchen! Ja. Auf dem Seitenstreifen.«
    »Ich fand, sie würden grün leuchten, und du hast gemeint, das komme nur daher, dass sie im Gras sitzen.«
    »Tatsächlich?«
    »Du hast eins in die Hand genommen, es saß auf einem Blatt, aber es hat trotzdem grünlich gelb geleuchtet, und du musstest eingestehen, dass …«
    Fast hätte er gegrinst. »Hin und wieder hast du recht. Aber in dieser Angelegenheit nicht.« Schweigen. »Sie leuchten, um einen Partner anzulocken«, sagte er.
    »Quell aller Weisheit.«
    Wir sehen einander an.
    »Bitte lass mich gehen. Bitte.«
    Er schüttelt den Kopf.
    Wir sitzen schweigend da und halten unsere leeren Becher in der Hand.

15
    Und dann war es geschehen.
    Ich lief aus der warmen Klinik hinaus, denn ich wollte nicht mit den anderen Mädchen sprechen. Aus der Drehtür ins Freie zu kommen war wie ein Sprung in eisiges Wasser. Meine Gesichtshaut spannte in der Kälte. Erst als ich an der Bushaltestelle angelangt war, fiel mir ein, dass gestreikt wurde.
    Ich war zu Fuß von der Haltestelle zur Klinik gegangen, aber jetzt konnte ich mich kaum noch auf den Beinen halten. Meine Herzschläge waren wie die Tritte eines Fußballspielers; er malträtierte meinen Brustkasten mit Tritten, sodass ich beinahe das Gleichgewicht verloren hätte. Ich lehnte mich ans Wartehäuschen und bemühte mich, gleichmäßig zu atmen: ein, aus, ein, aus, versuchte, das Ding in meiner Brust dazu zu bringen, dass es mich in Ruhe ließ. Ich legte die Hände um den Mund und fing meinen warmen Atem auf, tat so, als wäre dies die Papiertüte, die Sal bei ihren Panikattacken benutzte. Saugte die verbrauchte Luft in die Lunge. Dad hatte Sal einmal die Tüte abgenommen, sie an den Mund

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