Das Testament der Jessie Lamb: Roman
sprechen, aber hier ging es um Sal. Es kam mir so vor, als hätte ich ein Geschenk für sie – ein süßes Stück Ruhe, ein Versprechen von Frieden. Einen verrückten Moment lang stellte ich mir vor, sie würde darauf antworten: »Fantastisch! Ich melde mich auch an, wir machen das gemeinsam!« Dann wäre sie endlich die in ihr brodelnde Wut losgeworden.
Als ich ihr gegenüberstand, was es nicht so einfach, wie ich es mir vorgestellt hatte. Sie war angespannt und nervös, klapperdürr und ganz in Schwarz gekleidet. Im Haus war es kalt, und als wir nach oben auf ihr Zimmer gingen, erschrak ich über die leeren Regale und die an der Wand gestapelten Kartons. »Wann zieht ihr um?«
»Bald. Noch in dieser Woche. Sobald Mum sich einen Wagen ausleihen kann.« Sie räumte Sachen vom Bett, damit wir uns setzen konnten. »Mum meint, das Leben wird billiger, wenn wir uns mit anderen zusammentun.«
»Stimmt.« Ich bedauerte, dass ich mich ihr nicht einfach anschließen konnte. Wahllos nahm ich ein paar Sachen aus dem Karton neben dem Bett. Es war Spielzeug, mit dem sie als Kind gespielt hatte. Sie schenkte mir zur Erinnerung die aufziehbare Nonne. »Ihr nehmt alles mit? Verkauft deine Mum das Haus?«
»Die Wohnungsbaugesellschaft nimmt es zurück.«
»Warum kann sie’s nicht verkaufen?«
»Ist dir nicht aufgefallen, wie viele Häuser neuerdings zum Verkauf stehen?«
Ich kannte den Grund, o ja, ich kannte ihn. Überall gab es verrammelte Häuser. Aber ich fragte trotzdem: »Warum stehen so viele zum Verkauf?«
»Wegen all der toten Frauen.«
»Aber deren Männer und Kinder müssen doch auch irgendwo wohnen.«
»Glaubst du etwa, es wären keine alleinerziehenden Mütter gestorben? Glaubst du, die Kinder könnten alleine da wohnen bleiben?«
Sals Mutter war alleinerziehend, doch Sal hatte noch nie so gereizt auf das Thema reagiert. »Tut mir leid.« Aber die verstorbenen alleinerziehenden Mütter waren keine ausreichende Erklärung für die vielen leer stehenden Häuser. Vielleicht zogen die Leute weg, so wie Sal und ihre Mum, zogen mit anderen zusammen, um Geld zu sparen und sich zusammenzuschließen. In Erwartung des Schlimmsten. Sobald die Leute wieder Hoffnung hätten, würde sich das ändern. Ich konnte mich nicht länger bezähmen. »Sal, hast du schon von den tiefgefrorenen Embryos gehört?«
»Von den alten? Aus der Zeit vor MTS ?«
»Ja. Man kann sie gegen MTS impfen.«
»Die können sie impfen bis zum Gehtnichtmehr, sie müssen sich trotzdem etwas einfallen lassen, um sie zu inkubieren.«
»Wie meinst du das?«
»Sie werden keine bedauernswerten Schlafenden Schönen mehr missbrauchen.«
»Warum nicht?«
Sie funkelte mich an, als wäre ich eine Idiotin. »Weil FLAME sie daran hindern wird!«
»Wie das?«
»Wir werden dafür sorgen, dass keine jungen Frauen mehr einer Gehirnwäsche unterzogen werden, bis sie einwilligen, sich zu Tode foltern zu lassen. Es wird eine Kampagne geben, ausgerichtet auf junge Frauen. Wir werden sie darüber aufklären, dass man vorhat, sie in Zombies zu verwandeln.«
Ich fischte ein Legoteil aus dem Karton hervor. Einen Klumpen aus blauen und roten Steinen, der auf einer grünen Fläche befestigt war. Ich nahm ihn auseinander und baute eine Treppe daraus, setzte einen Stein versetzt auf den anderen. »Glaubst du nicht, dass einige von ihnen es sich gut überlegt haben?«
»Nein«, sagte sie. »Schlafende Schöne sind auch nur Selbstmörderinnen. Das ist ein Hilferuf.«
»Ich glaube, man kann durchaus bei wachem Verstand sein und zu dem Schluss kommen, dass es sich lohnt.«
»Weshalb sollten Frauen ihr Leben opfern? Eine Lösung wird es nur dann geben, wenn die Frauen sich kategorisch weigern, weiterhin Opfer zu sein.«
»Glaubst du das wirklich?« Die Treppe führte ins Leere. Ich warf sie in den Karton.
»Wenn jemand sagt, ach, mein Leben ist nicht so wichtig, ich opfere mich, damit du ein Kind haben kannst, was wird der Mann darauf erwidern? Nein, danke? Jedes Mädchen, das eine Schlafende Schöne werden will, macht es für uns Überlebende nur noch schlimmer.«
»Was will FLAME gegen die Freiwilligen unternehmen?«
» Wir werden gar nichts unternehmen. Wir werden den Männern sagen, es ist an der Zeit, dass sie etwas unternehmen. Sollen sie doch ihr Leben aufs Spiel setzen.« Ich dachte an die Medikamententester, fast ausschließlich Männer. Aber die Unterhaltung drehte sich im Kreis.
»Wirst du weiter aufs College gehen, wenn du in Glossop wohnst?«
»Meine
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