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Das Testament der Jessie Lamb: Roman

Das Testament der Jessie Lamb: Roman

Titel: Das Testament der Jessie Lamb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jane Rogers , Norbert Stöbe
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ihm mitzuteilen, ich hätte eine wichtige Neuigkeit, und ihn zu bitten, nach Hause zu kommen, damit ich ihm alles erzählen könnte. Ich würde es ihnen beiden zugleich erzählen. Wie stolz sie auf mich sein würden!
    O ja, daran erinnere ich mich, und ich weiß noch genau, wie froh mich der Gedanke machte, dass er nach Hause kommen würde. Wie blöd kann man eigentlich sein?

16
    Zu Hause erwartete Mum mich bereits und fragte, ob ich etwas von ihm gehört habe, denn bei ihr hatte er sich offenbar nicht gemeldet. Sie war ganz grau im Gesicht und hatte gerötete Augen, und auf einmal tat sie mir furchtbar leid. Sie wollte wissen, ob ich versucht hätte, ihn anzurufen, und als ich das bejahte, kamen ihr die Tränen. »Ich dachte schon, er würde nur bei mir nicht drangehen. Aber wenn er bei dir auch nicht abnimmt … vielleicht sollte ich zur Polizei gehen.« Ich war zuversichtlich, dass er meine E-Mail beantworten würde. Ich war voller Hoffnung, aber den Grund konnte ich ihr natürlich nicht sagen. Ich schlug vor, noch einen Tag zu warten, bevor sie zur Polizei ging. Als ich das mit ruhiger Stimme sagte und sah, wie Mum zaghaft lächelte, wurde mir klar, dass sich das Gleichgewicht zwischen uns verschoben hatte. Wie bei einer Schaukel, die sich, wenn man der Schwerere ist, nach unten senkt, bis man mit dem Hintern auf den Boden kracht. Jetzt stieg ich empor, immer höher. Ich tröstete sie . Eine schwindelerregende Freude erfasste mich, hob mich empor wie einen Vogel. Ich wusste , dass ich das Richtige tat.
    Ich mailte ihm: »Hi, Dad, ich weiß, du und Mum habt Streit, aber ich habe eine wichtige Neuigkeit. Ich muss es dir sofort sagen! Bitte antworte gleich, wann und wo wir uns treffen können. Du fehlst mir! Xoxo Jess.« Als Betreff schrieb ich »Leben und Tod, ehrlich«, dann löschte ich es wieder. Ich wollte ihm nicht sagen, wie traurig und zornig und verängstigt ich mich gefühlt hatte, und er würde mir im Gegenzug nicht böse sein, weil ich ihm nicht von Mums Affäre erzählt hatte. Für mich war der Deal perfekt.
    Nach dem Abendessen machte Mum einen Besuch bei Mandy. Ich wollte erst am nächsten Morgen nach meiner E-Mail sehen. Er würde mir antworten, ganz bestimmt. Ich stellte den Fernseher an. In Äthiopien gab es eine angeblich gesunde Schwangere, die wie eine Heilige verehrt wurde. Man sah die Menschenmenge auf der Straße vor ihrer Hütte, die Orangen und Süßkartoffeln, die man ihr darbrachte. Ein kleiner Junge nahm feierlich die Geschenke entgegen, dann fiel die Tür wieder zu. Die Menschen auf der Gasse knieten nieder und beteten. Es wurde gemeldet, elf von dreißig britischen Freiwilligen, denen neue Medikamente gegen MTS verabreicht wurden, seien nach unvorhergesehenen Komplikationen gestorben. Die Polizei hatte eine öffentliche Vorführung des MTS -Films von FLAME abgebrochen, nachdem es zu Tätlichkeiten zwischen Zuschauern und den Müttern für das Leben gekommen war, die dagegen demonstrierten. Ich schaltete den Fernseher aus. Ich spürte den Widerhall der zornigen Ohnmacht auch in mir hochkochen, dann erinnerte ich mich und lachte erleichtert auf. Ich tat wenigstens etwas und hatte keinen Grund, mich mit diesen … Albernheiten zu beschäftigen. Der Druck in meinem Kopf entwich wie der Dampf aus einem Kessel mit kochendem Wasser.
    Ich saß da, schaute den leeren Bildschirm an und umarmte das wundervoll scharfe Messer meines Geheimnisses. Ich war froh darüber, dass ich sterben würde, denn das war die einzige perfekte Lösung für das ganze Durcheinander und das Leid. Die Vorstellung glich einer lieblichen grünen Oase in der Wüste; ein Ort der Kühle und des Schattens.
    In der Stille klingelte auf einmal mein Handy – Sal. Sie hatte eine Neuigkeit zu verkünden. Sie teilte mir mit, sie und ihre Mum hätten lange miteinander gesprochen und wären zu einer Entscheidung gelangt. Sie wollten wegziehen.
    »Warum? Wohin zieht ihr?«
    »Wir ziehen nach Glossop, im FLAME -Haus sind noch zwei Zimmer frei.«
    »Aber Sal – wie sollen wir uns dann treffen? Glossop ist meilenweit entfernt!«
    »Wir können mit dem Bus fahren. Wir können uns in Ashton treffen.«
    Wie lange würde es dauern, bis sie das Haus verkauft hätten und wegzögen? Mir wurde klar, dass es belanglos war, denn ich würde vielleicht schon vorher sterben. »Soll ich vorbeikommen?«
    »Ja.«
    Ich brannte darauf, es ihr zu erzählen. Mr. Golding hatte gemeint, wir sollten mit niemandem über unser Interesse an dem Programm

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