Das Testament der Jessie Lamb: Roman
Zeitpunkt hatte ich noch nicht einmal davon gehört. Sal hatte ihn von den FLAME -Frauen bekommen. Es war die aufwühlendste DVD , die ich in meinem ganzen Leben je gesehen hatte. Der Film handelte von mehreren Frauen, die MTS hatten. Aber das war kein Film im Stil »Tagebuch einer Kranken«, wo man zusammen mit der betroffenen Frau, die verschiedene Behandlungen ausprobiert und auf einen guten Ausgang hofft, alle Stadien des Zweifels und der Angst durchleidet. Denn auch wenn sie am Ende stirbt, hat sie doch etwas gelernt und einen etwas gelehrt. So war das nicht. Es wurden nicht mal die Namen der Frauen genannt, sie wurden einfach nur in ihrem kranken Zustand gezeigt. Wie sie gegen Möbel stoßen. Schimpfen. In einem fort dieselben Worte wiederholen. Zusammenbrechen und Anfälle bekommen. Frauen zu Hause, in Krankenhäusern, in verschiedenen Ländern, auch im Freien, auf dem nackten Boden liegend. Tote Frauen. Die Frauen werden nicht gezeigt wie Menschen, an denen man Anteil nimmt, sondern wie Tiere, in schockierendem Zustand, nackt, sich übergebend. Man sagt, das sei pornografisch. FLAME sagt, das zeige die Realität, die die Menschen nicht wahrhaben wollten und lieber mit Blumen bemäntelten.
»Das wird ihnen die Augen öffnen«, sagte Sal.
»So ist es nicht mehr. Die MTS -Frauen werden eingeschläfert, niemand braucht mehr so schrecklich …«
»Eingeschläfert?«, schrie sie. »Eingeschläfert? Wir reden hier nicht von altersschwachen Haustieren, wir reden von jungen Frauen. Von Frauen, die sterben . Wenn man nicht mit ansehen muss, wie sie verrückt werden, dann ist es also okay, oder?«
Darauf wusste ich nichts zu erwidern.
»Wir werden damit eine Kampagne starten – wir werden sie dazu zwingen, uns zur Kenntnis zu nehmen. Stell dir doch mal vor, es wären Männer, die auf diese Weise sterben. Glaubst du, dann würden wir noch immer auf ein Heilmittel warten?«
Als der Film zu Ende war, fühlte ich mich elend, und Sal war total überdreht. Ich verabschiedete mich, damit sie mit ihren Freundinnen von FLAME telefonieren konnte. Ich schaute erst aufs Handy, als ich zu Hause war, doch das nutzte nichts, ich hatte noch immer keine SMS bekommen. In der Küche roch es unangenehm, und als ich in den Abfalleimer sah, entdeckte ich darin einen Haufen Kippen. Mum hatte mir versichert, sie habe mit dem Rauchen aufgehört. Das hätte ich mir denken können. Mit den neuen Klamotten war es das Gleiche; ich wusste genau, dass die graue Wolljacke auf dem Treppengeländer aus dem aktuellen Sortiment von Jigsaw stammte. Eine angeblich gebildete, intelligente Person. Wenn es nicht reichte, es ihr zu erklären und sie zu bitten, welche Hoffnung bestand dann überhaupt?
Als Mum heimkam, versuchte sie, mich zum Abendessen zu überreden. Sie lief mir bis in mein Zimmer nach. »Ich weiß, du machst dir Sorgen wegen Joe, Jessie, das tue ich auch. Aber diese Stimmung im Haus macht alles nur noch schlimmer.«
»Dein Qualmen vergiftet die Atmosphäre ebenfalls«, erwiderte ich.
Sie ging auf ihr Zimmer und machte dort keinen Mucks. Ich fragte mich, ob sie weinte. Ich wusste, ich war schrecklich. Am liebsten hätte ich den ganzen Tag ungeschehen gemacht, ich wünschte, ich wäre jemand anders. Sal war bei FLAME , Baz ging weg, und Dad hielt es für richtig, meine Anrufe zu ignorieren.
Ich schaltete das Licht aus, zog den Vorhang auf, legte mich hin und schaute zur Buche auf. Das Geäst hob sich schwarz vom Himmel ab. Die unteren Äste schimmerten schwach orange, was von der Straßenbeleuchtung kam. Der Himmel war dunkel, weder Mond noch Sterne waren zu sehen – nur Wolken, welche die Lichtverschmutzung reflektierten. Ich kam mir vor wie ein Tier im Käfig. Egal in welche Richtung ich mich wandte, überall stieß ich an. Es gab nichts, was ich hätte tun können – ich war ohnmächtig. Ich musste einen Ausweg finden.
Bevor ich wusste, woran es lag, ließ der Druck in meinem Kopf nach. Ein Lichtschimmer. Das war die Freiheit, die ich an dem Abend des blauen Kleids verspürt hatte. Als ich mir vorgestellt hatte, wie es wäre, mich freiwillig zu melden. Wie erfreut Dad wäre, wenn ich mich meldete (stellte ich mir vor). Dann könnte er mir nicht mehr böse sein, er würde einsehen, dass ich mit viel wichtigeren Dingen beschäftigt gewesen war als mit Mums blöder Affäre. Er wäre stolz auf mich. Ich hörte ihn beinahe sagen: »Mein tapferes Jessielein!«
Wie verrückt, verrückt, verrückt mir das jetzt vorkommt. Aber so dachte
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