Das Testament der Jessie Lamb: Roman
würden, dem polierten Tisch und dem süßlichen blauen Duft der Hyazinthen. Es war real. Es war in mir, in Jessie Lamb. Die Räder ratterten auf den Schienen, und ich glaubte das Gewicht zu spüren, das die Lok zu ziehen hatte.
In der Klinik hatten wir uns fasziniert angeschaut, bevor Mr. Golding hereinkam. Es war, als betrachteten wir uns selbst; die anderen Mädchen, die es ebenfalls tun wollten, waren auf einmal meine Schwestern. Wir waren zu fünft. Ich mochte das Mädchen, das mir gegenübersaß. Sie hatte ihr Haar zu lauter kleinen Zöpfen geflochten und sah lächelnd zu mir auf, als ich meinen schweren Stuhl über den Teppich zum Tisch schieben wollte. Die junge Frau am Tischende tat so, als würde sie lesen.
Ich kannte Karen vom Labor meines Dads her, und dachte, die ist doch bestimmt zu alt dafür? Mitten auf dem Tisch stand eine Schale mit blauen Hyazinthen, deren glatte Oberfläche spiegelte. Im Wartezimmer war alles so warm und hell, dass ich mir die Augen reiben musste. Und dann traten Mr. Golding und zwei Krankenschwestern ein, und er war mollig und kahlköpfig und lächelte so freundlich wie Humpty Dumpty. Mit seinem fremdartigen Akzent erklärte er uns in ruhigem, freundlichem Ton alles, was wir wissen müssten. Die Klinik würde unsere Privatsphäre schützen, und wir wären im Gegenzug verpflichtet, niemandem von unserem Interesse an dem Programm zu erzählen. Eine der Schwestern schaltete ein Aufzeichnungsgerät ein, »aus rechtlichen Gründen«, wie er uns erklärte.
Er schilderte uns, was bei einer Implantation vor sich ging. Er sagte, in der gegenwärtigen Lage »gibt es nur wenige Szenarien, die Anlass zu Hoffnung geben«, und dies sei eines davon. Und er sagte, wir würden das Opfer nicht nur für dieses eine Kind erbringen, sondern für alle Nachkommen dieses Kindes – für die Kinder der Zukunft. Das Mädchen an der Tür brach in Tränen aus, und eine Krankenschwester geleitete es hinaus.
Ich breitete die Hände auf dem glänzenden Tisch aus und dachte, das ist kein Traum. Hier an diesem Ort hat man die Macht, Dinge wahr werden zu lassen. Mr. Golding gab uns einen Zeitplan. Wenn wir noch Interesse hätten, sollten wir uns zu einer medizinischen Untersuchung anmelden. Wenn das Ergebnis positiv ausfalle, müssten wir an einer Beratung teilnehmen, die uns helfen solle, uns über unsere Motive klar zu werden und mit unserer Entscheidung ins Reine zu kommen, egal, wie sie ausfalle. Zuletzt gäbe es noch ein persönliches Gespräch, und dann würden wir entweder angenommen oder abgewiesen werden.
Er wollte wissen, ob wir Fragen hätten, doch wir hatten keine. Er lächelte blinzelnd, und ich bemerkte, dass seine Krawatte mit blauen und grünen, sich gegenseitig überlappenden Fischen gemustert war. Bei jedem anderen hätte sie lächerlich gewirkt, doch ihm stand sie. Er hat so eine wache, forschende Art, einem ins Gesicht zu sehen und einem das Gefühl zu geben, als würde man ihn schon seit einer Ewigkeit kennen. »Über eines sollten Sie sich von Anfang an vollkommen im Klaren sein, meine Damen. Niemand wird gezwungen, diesen Schritt zu tun. Haben Sie mich verstanden? Es steht Ihnen frei, jederzeit wegzugehen; heute, nächste Woche, an dem Tag vor der Implantation.« Er breitete die Arme aus. »Das ist überhaupt kein Problem. Wenn Sie es sich anders überlegen, bin ich glücklich. Sie sind jung. In der Jugend ist das Immunsystem stärker. Deshalb suchen wir Sechzehnjährige. In einigen Ländern werden noch jüngere Mädchen genommen.« Er schaute uns an, dann nahm er seine funkelnde runde Brille ab und rieb sich die Augen. »Sie besitzen großen Mut, junge Damen. Dem Gesetz nach sind Sie alt genug, um ein Kind zu bekommen. Aber vergessen Sie nicht, dass Sie in den Augen Ihrer Eltern selbst noch ein Kind sind. Ich bitte Sie, mit Ihren Eltern zu sprechen und auf ihren Rat zu hören. Und jetzt überlasse ich Sie der Obhut der freundlichen Schwester Garner.« Er deutete eine ernste kleine Verneigung an und wandte sich zur Tür. Schwester Garner lächelte ihn an und trat mit ihrem Notizblock vor; wir könnten uns jetzt für die Voruntersuchung anmelden, wenn wir noch Interesse hätten. Das tat ich auch.
Der Zug machte ein schwirrendes Geräusch, als drehten die Räder durch, dann endlich nahm er Geschwindigkeit auf. Ich sah aufs Handy. Nichts. Ich überlegte, ob Mum mich fragen würde, wo ich gewesen sei, und was ich ihr darauf antworten sollte. Ich hatte die Idee, Dad eine Mail zu schicken,
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