Das Testament der Jessie Lamb: Roman
man sonst den Boden umgraben, die Gebäude instand setzen, die Steinmauern wieder aufrichten? Das konnte man nur tun, wenn man MTS ausblendete. Man musste die Krankheit ignorieren – so wie das bedauernswerte junge Pärchen, das letztes Jahr hier gelebt hatte. Ich setzte mich auf ein verfallenes Mäuerchen und schaute ins Tal, während der Nebel sich auflöste. Etwas regte sich unter meiner Furcht. Es war, als würde es aufspringen und davonfliegen. Auf einmal war mir klar, dass es nur einen Weg gab. Und diesmal war ich mir hundertprozentig sicher.
Das wusste ich, weil ich Angst hatte. Ich würde es tun.
Gleich als ich im Zug wieder Netzempfang hatte, rief ich Dr. Nichol an und sagte ihr, ich sei bereit.
»Sind Sie sicher?«
»Ganz sicher.«
»Das ging aber schnell.«
»Ja, aber ich irre mich nicht.«
»Lassen Sie sich noch eine Woche Zeit, Jessie. Kommen Sie nächsten Montag um 11.15 Uhr zu mir.«
Mum hatte mir eine SMS geschickt. Sie klang aufgeregt und wollte, dass ich sie anrief. Ich wusste, worum es ging. Sie sagte mir, die Beerdigung sei nächsten Sonntag. Ich sagte ihr, ich sei bereits auf dem Heimweg.
In der Woche half ich Mum, Mandys Wohnung auszuräumen. Sie hatte in der Küche angefangen, als Mandy betäubt im Bett lag; sie meinte, sie habe nicht tatenlos herumsitzen können. Sie wollte, dass ich die Puppen und Masken nähme. Ich packte sie in einen Koffer, denn ich wusste nicht, was ich sonst mit ihnen hätte anfangen sollen. Wie sollte ich es ihr nur beibringen? Ich stellte mir vor, ich riefe sie an dem Tag, da man mir den Embryo einpflanzen würde, vom Krankenhaus aus an. Oder ich würde Mr. Golding bitten, sie anschließend zu informieren. Dann bliebe ihr wenigstens die quälende Warterei erspart. Es wäre ein sauberer Schnitt, wie wenn ich vom Bus überfahren würde.
Dad und ich arbeiteten an der Totenrede über Mandys Leben, und ich erklärte mich bereit, sie bei der Beerdigung vorzulesen. Das war das Mindeste, was ich für sie tun konnte. Es kamen nur zwölf Personen; ihre alten Freunde hatten sich während ihrer monatelangen Krankheit von ihr abgewendet. Clive kam, er sah elend aus, und auch ihre Nachbarin Caroline sowie Christine und die anderen Mitglieder ihrer Theatergruppe; mit uns und dem Priester war es das auch schon. Es war einfach nur ein weiteres MTS -Begräbnis. Niemand weinte, alle Tränen waren bereits vergossen. Das Ritual hatte etwas Tröstendes, der Gesang, die Zusammenfassung von Mandys Leben, die Fotos aus glücklicheren Zeiten an der Wand. In meinem Kopf übersetzte ich das in mein eigenes Begräbnis. Vielleicht würden Sal, Baz und Lisa daran teilnehmen. Meine Lebensgeschichte würde kürzer ausfallen, denn mein Leben hätte früher geendet als ihres. Doch es wäre ein neuer Mensch dabei. Ein neues Leben in den Armen meines Dads. Das Baby würde die Trauernden für meinen Tod entschädigen. Irgendwie brachten wir das Wochenende hinter uns. Und dann war es Montagmorgen, der Tag, an dem ich meinen Termin bei Dr. Nichol hatte.
Ich berichtete ihr, was geschehen war, weshalb ich Gewissheit erlangt hatte. Und gewiss war ich mir; meine Entscheidung war gefallen. Sie rief eine Zeugin hinzu, und ich unterzeichnete die Dokumente. Ich wollte, dass es bald geschah, denn mit jedem verstreichenden Tag werde ich älter. Je jünger die Mutter, desto bessere Überlebenschancen hat das Kind.
»Sie müssen es Ihren Eltern sagen.«
»Aber wie soll das gehen? Wie kann ich das in dieser Situation?«
»Sie müssen es ihnen sagen.«
»Wenn ich von zu Hause ausgezogen – oder weggelaufen – wäre, würden sie es auch nicht erfahren.«
»Seien Sie vernünftig, Jess. Ihrem Zyklus nach zu schließen dürften Sie in zehn Tagen für die Implantation bereit sein. Wir können natürlich auch noch einen weiteren Monat warten. Wie dem auch sei, Ihre Eltern müssen es erfahren. Und wenn Sie den Embryo so bald wie möglich eingepflanzt haben möchten, müssen Sie es ihnen heute sagen. Überlegen Sie mal, in welchem Licht die Klinik dastehen würde, wenn es hieße, wir würden junge Frauen ohne Wissen ihrer Eltern in das Programm aufnehmen.«
Publicity. Iain. Baz hatte den Beitrag von der Website entfernt, aber was mochte Iain sonst noch vorhaben? Nun, in zehn Tagen bräuchte ich mir darüber keine Gedanken mehr zu machen – in zehn Tagen wäre ich frei.
Schleppenden Schritts ging ich nach Hause.
Ich sagte es ihnen, als beide von der Arbeit nach Hause gekommen waren, und kam mir dabei vor wie
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