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Das Testament der Jessie Lamb: Roman

Das Testament der Jessie Lamb: Roman

Titel: Das Testament der Jessie Lamb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jane Rogers , Norbert Stöbe
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hat unrecht, und ich habe recht, und es ist an der Zeit, alles zu tun, um es zu beweisen.
    Aber ich bin so hungrig, dass ich nicht nachdenken kann. Wie lange ist es her, dass er mir etwas zu essen gegeben hat? Zu Mittag gab es Rührei und vegetarische Würstchen. Eigentlich dürfte ich nicht so hungrig sein. Ich versuche, das meinem Magen mitzuteilen, doch der hört nicht auf mich. Der kleine Gehirnpickel will den großen, verfressenen Körper herumkommandieren, auf dem er sitzt. Wenn sie mein Gehirn einschläfern, wird das übrig bleiben: ein großer, verfressener Körper.
    Nein. Nein. Ganz ruhig. Einatmen. Ausatmen. Ruhig. Ich denke an die zischenden Beatmungsmaschinen.
    Mein Körper ist schlau. Er hat seinen eigenen Rhythmus, seine Geheimnisse und Kräfte, die nichts mit meinem Bewusstsein zu tun haben. Mein Körper wird die Kontrolle übernehmen und ein perfektes Wesen ausbrüten. Und mein dummes, plapperndes Bewusstsein wird schweigen.
    Ich konzentriere mich auf den grauen Himmelsausschnitt, den ich durchs Fenster sehen kann. Es ist nicht vollständig dunkel. Es wird alles gut. Ich sitze am längeren Hebel. Ich spüre, dass ich stärker werde. Das alles habe ich nicht durchgemacht, um mein Vorhaben von ihm vereiteln zu lassen.
    Ich werde dich besiegen, Dad.

25
    In der Speisekammer von Eden fand ich eine Büchse Pfirsiche und verspeiste sie zum Frühstück. Als ich mich gewaschen und meine Sachen gepackt hatte und alles wieder so aussah, als wäre ich nie da gewesen, lichtete sich der Nebel. Ich schämte mich. Durch die Hintertür ging ich hinaus.
    An der Rückseite des Gartens befand sich ein brandneues Tor mit Schnappriegel, ganz aufgequollen vor Feuchte. Ich gelangte auf einen Weg, der am Bach entlangführte. Am anderen Ufer war eine Hecke aus unbelaubten, mit weißen Blüten besetzten schwarzen Dornbüschen. Schwarzdorn kam mir in den Sinn, und ich dachte an die Spaziergänge mit meinem Vater, als der Quell aller Weisheit versucht hatte, mir die Pflanzennamen beizubringen. Ich neckte ihn, indem ich so tat, als könnte ich sie mir nicht merken und alles »Hortensie« nannte, doch jetzt fand ich, wenn ich hier leben wollte, wäre dieses Wissen äußerst nützlich.
    Wie ich so den Pfützen auswich, nahm ich verschiedene Schichten von Geräuschen wahr; das Rauschen des Bachs in der Nähe, ein in der Hecke singendes Rotkehlchen; weiter weg das Blöken der Schafe und das Krächzen der Krähen, die in den kahlen Baumwipfeln auf der Hügelkuppe ihre Nester bauten.
    Der Weg wurde morastig, und ich kletterte auf trockeneres Gelände hoch. Es stank, und als ich mich über die Mauer zog und auf das Feld hinuntersprang, flogen unmittelbar vor mir zwei Krähen auf, und ich hätte beinahe das Gleichgewicht verloren. Da lag ein totes Mutterschaf. Und daneben eine Menge Blut und Schleim. Das musste ihr Lamm gewesen sein. Ich hielt mich an der Mauer fest. An der gegenüberliegenden Hecke standen mehrere Schafe. Die verfilzte Wolle hing ihnen in Klumpen vom Leib.
    Sie beobachteten, wie ich langsam zum nächsten Tor ging und wieder zum Bach hinunterkletterte. Einen Moment lang sah ich etwas Blaues aufblitzen. War das ein Eisvogel gewesen? Gleich darauf war er schon wieder weg. »Prächtiger als ein Pfau«, flüsterte ich vor mich hin. Ich querte den Bach an einer Brücke und stieg den Pfad an der anderen Talseite hoch, bis ich alles überblicken konnte, als wäre es ein Landschaftsmodell. Die Sonne war endlich durch den Nebel gebrochen und verbreitete ein sanftes weißes Licht. Ich stellte mir Lisas Birnen- und Apfelbäume in voller Blüte vor, die säuberlich aufgereihten Gemüsepflanzen, den aus dem Schornstein der Farm sich emporkräuselnden Rauch. Die Ziege und ihr Junges tollten auf dem Feld umher, die Hühner gackerten und krähten, Lisa sammelte Eier in einen Korb. Es wäre idyllisch.
    Doch noch immer hatte ich den Gestank des toten Schafes in der Nase. Wenn wir alt und steif wären, würde das Unkraut die Felder überwuchern. Füchse würden die Hühner holen, die Ziegen würden durch die Löcher im kaputten Zaun rennen, der Kohl und die Zwiebeln würden ausschlagen. Die unbeschnittenen Bäume würden ein Dickicht bilden, die Bienen würden ausschwärmen, die Winterstürme die Schindeln vom Dach reißen. Ich stellte mir ein altes Weib vor, das am Kamin zusammengesunken an einem verschrumpelten Apfel nagte. Der letzte Mensch.
    Um in diesem Eden zu leben, bräuchte man die Früchte vom Baum des Nichtwissens. Wie sollte

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