Das Testament der Jessie Lamb: Roman
mich neben sie und wartete. Nach einer Weile hob sie den Kopf und wischte sich mit den Handschuhen die Tränen vom Gesicht.
»Ich hab das nicht gewollt«, sagte sie mit leiser, tonloser Stimme. »Ich wollte nie die Mutter der beschissenen Jeanne d’Arc sein.«
»Das ist der Grund, weshalb ich geboren wurde«, sagte ich.
»Nicht zu wissen, weshalb man auf der Welt ist, ist das Schicksal des Menschen.«
»Ist es nicht!«, rief ich vergnügt. »Ist es nicht!«
»Jessie, du wirst sterben.«
»Hier geht es nicht um ein Individuum. Die Gesamtheit, die Menschheit als Ganzes – die ist wichtiger als ein einzelner Mensch.«
»Das ist eine erschreckende Sichtweise. Wenn man erst mal glaubt, einzelne Menschen könnten geopfert werden …«
»Mum. Denk doch nur mal an die Frauen, die schon gestorben sind. An die vielen Frauen, die gestorben sind.« Der Wind heulte am Schatten des Felsen vorbei, hinter dem wir Schutz gesucht hatten. Ich wusste, dass auch sie in diesem Moment an Mandy dachte. Aber da waren auch noch all die anderen Frauen. Und deren Kinder. Alle miteinander. Mum blickte starr vor sich ins Leere. Tränen strömten ihr übers Gesicht. Sie glich einer hell brennenden Kerze. Schmelzendem Wachs. Ich dachte, endlich begreift sie es. Ich kniete mich vor sie hin und ergriff ihre handschuhumhüllten Hände. »Siehst du?«, fragte ich. »Siehst du? Eigentlich ist es ganz einfach.« Ich umarmte sie; spürte, dass sie nach Luft schnappte wie eine Ertrinkende.
»Jetzt verstehst du es, du verstehst es«, murmelte ich in ihr Haar. »Alles wird gut.« Schließlich hörte sie zu weinen auf und hob den Kopf, und ich wischte ihr mit meinem Seidenschal die Wangen trocken.
»Du machst mir Angst«, flüsterte sie, und ich lachte sie aus. »Nein«, sagte sie. »Es stimmt. Du bist ein anderer Mensch geworden.«
»Ich möchte nicht, dass du traurig bist.«
»Was soll ich machen? Ich liebe dich, Jessie.«
Wieder zu Hause, als ich zu Bett ging, lag ich lange wach und dachte über Mum nach. Vielleicht hatte sie mich ja verstanden. Ich überlegte, wie ich Dad angehen sollte.
Am Morgen stand ich auf, sobald ich ihn rumoren hörte. Ich ging in die Küche, wo er mit breitem Grinsen von der Zeitung aufsah. »Morgen, Jessielein! Und wie geht’s meinem nussbraunen Mädchen?«
Ich war baff. In letzter Zeit hatte ich ganz vergessen gehabt, wie nett er sein konnte! Ich betrachtete sein Affengrinsen und sein verwuscheltes Haar und hatte auf einmal die freudige Hoffnung, Mum habe ihm von unserem Ausflug nach Scarborough erzählt und ihn umgestimmt.
»Ich muss dir was zeigen!«, meinte er, bevor ich etwas sagen konnte. Er hob die Zeitung hoch und zeigte mir die Titelseite. Die Überschrift lautete: Embryo-Embargo! Ich verstand nicht, was das bedeuten sollte. »Es ist Schluss mit dem ganzen Unsinn«, sagte er. »Die Vernunft hat gesiegt.«
»Was meinst du?«
»Die Implantation von Embryos wird gestoppt. Als Reaktion auf den Unfug in Cheshire von letzter Woche.«
»Aber man kann die Schlafenden Schönen doch nicht einfach …«
»Man kann die Frauen nicht daran hindern, auf natürlichem Wege schwanger zu werden, das ist klar. Die Implantationen werden gestoppt.«
»Aber es wurden doch noch gar keine Embryos eingepflanzt.«
»Glaubst du, Golding wäre der Einzige? Jetzt, da der Impfstoff verfügbar ist, werden Kliniken im ganzen Land auf den Zug aufspringen.«
»Aber warum sollte man sie stoppen?«
»Wegen fehlender Einvernehmlichkeit. Die geltende Rechtsprechung deckt das bei Weitem nicht ab.«
»Erklär mir das.«
»Okay. Bevor alles anfing, gehörte ein gelagerter Embryo juristisch betrachtet seinen biologischen Eltern, die seine Erzeugung veranlasst haben. Entstand der Embryo aus einer Spendereizelle oder einer Samenspende, konnten die Spender ebenfalls mitreden. Und jetzt ist da auch noch die Leihmutter, die bei der Schwangerschaft stirbt und deren Eltern ebenfalls ein Wörtchen mitreden wollen. Das ergibt sechs potenzielle Elternanwärter für jedes Kind. Der gesunde Menschenverstand sagt einem, dass die biologischen Eltern den Vortritt haben sollten. Aber von einigen sind bis zu zehn Embryos gelagert. Was soll man mit zehn Kindern anfangen? Wer entscheidet, welche man behält? Und warum sollten die Familien der Leihmütter leer ausgehen? Manche Leute finden auch, dass keine dieser Parteien die Kinder bekommen sollte – die Babys seien so kostbar, dass man sie nur bewährten Pflegefamilien überlassen sollte.« Lachend
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