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Das Testament der Jessie Lamb: Roman

Das Testament der Jessie Lamb: Roman

Titel: Das Testament der Jessie Lamb: Roman
Autoren: Jane Rogers , Norbert Stöbe
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wollte. Der weite Himmel wartete auf mich. Meine Träume in dieser Nacht waren so weit und groß wie das Weltall, und mitten darin schwebte eine Idee, eine Lösung, wie ich mit Mum sprechen könnte.
    Ich staune immer wieder darüber, wozu unser Gehirn imstande ist – es löst Probleme im Schlaf. Ich erinnere mich, vor Jahren mit Dad darüber gesprochen zu haben. Er meinte, das stimme und sei ein Beleg dafür, dass wir große Teile unseres Gehirns nicht bewusst nutzten, genau wie in der Geschichte von den Elfen und dem Schuster. Wenn der Schuster am Abend zu Bett ging, blieben immer unfertige Schuhe stehen, weil er zu müde war, um die Arbeit abzuschließen. Und während er schlief, kamen jede Nacht die Elfen und hämmerten, schnitten zu und nähten, und wenn er aufwachte, fand er ein fertiges Paar Schuhe vor.
    Genau das taten meine Elfen in jener Nacht. Als ich erwachte, war mir klar, dass Mum schwankend wurde. Sie wurde schwach. Ich brauchte sie nur eine Weile aus Dads Nähe zu entfernen, dann würde sie sich abfinden. Ich musste sie an einen Ort bringen, wo sie Licht und Weite um sich hätte. Wo sie sehen könnte, was ich sah. Und der perfekte Ort dafür war: das Meer!
    Ich würde mit ihr nach Scarborough fahren. Oma Bessies Wohnwagen war mir einer der liebsten Orte auf der ganzen Welt. Ich weiß noch, wie ich mich auf meine schmale Pritsche kniete und den steifen kleinen Vorhang nach einer Seite schob, damit ich nach draußen schauen konnte. Ich erinnere mich, wie die Morgensonne in den Wohnwagen fiel und wie das Meer hinter den anderen Wohnwagen gleißte, die sich wie Scherenschnitte auf dem Feld aneinanderreihten. An der anderen Seite der Hecke führt der Küstenweg entlang, auf den bröckelnden Klippen. Schäumende Wellen rauschen über die Kiesel am Strand, die Luft ist erfüllt von ihrem Klackern. Und wenn man aufs Meer hinausschaut, sieht man die Lichtschneise, die die Sonne darauf malt und die direkt zu einem herführt, zu den stürmischen Klippen.
    Mit dem Auto nahmen wir immer zwei Koffer, einen Karton mit Lebensmitteln und Mums Strandtasche mit, in der sie Eimer, Schaufel und Frisbeescheibe verstaut hatte, und sangen verrückte Lieder. Ich spielte »Ich sehe was, was du nicht siehst«. Jetzt könnten wir mit dem Zug fahren, ohne Dad davon zu erzählen. Ich würde ihr sagen, dass ich dorthin wolle, und das stimmte auch. Mir blieb nicht mehr viel Zeit, und ich wollte keine Minute länger warten als nötig. Ich schlich mich in Mums Zimmer und kroch zu ihr ins Bett, wie ich es früher immer getan hatte, als ich noch klein war. Ich sagte ihr, ich wolle ans Meer. Ich überredete sie, sich einen Tag freizunehmen.

28
    Es waren kaum Leute im Zug, im ganzen Waggon befanden sich außer uns nur drei weitere Personen. Wir saßen einander gegenüber, während Felder und Moore am Fenster vorbeizogen. Man spürte, wie der Wind am Zug rüttelte. Ein paar Baumwipfel, an denen wir vorbeikamen, neigten sich im Wind. »In Scarborough ist es immer windig«, sagte Mum. »Früher hatte ich manchmal Angst, der Wohnwagen würde in der Nacht davonfliegen.«
    »Ich erinnere mich, wie es bei Tag war«, sagte ich. »Aber nicht an die Nächte.«
    »Ach, nachts hatte man das Gefühl, in einem Flugzeug zu sitzen«, meinte sie. »Das Tosen und das zerkratzte Fenster. Ich stellte mir immer vor, dass wir beim Aufwachen ganz woanders wären, meilenweit landeinwärts.«
    Wir erinnerten uns daran, wie Dad seine großen Strandburgen gebaut hatte. Nicht nur eine Burg mit Graben, sondern Befestigungen wie die Chinesische Mauer. Und breite Kanäle, um die Flut abzuleiten und zurückzuhalten. Den ganzen Tag lang schaufelten wir Sand, und andere Kinder und deren Väter kamen uns zu Hilfe, und Mum suchte für mich Muscheln, die wir als Fenster und Türen verwendeten. »Erinnerst du dich an die Schmuckkästen?«, fragte sie. Damit hatten wir uns beschäftigt, wenn es regnete. Während der Regen aufs Dach trommelte, saßen wir beieinander am roten Resopalklapptisch des Wohnwagens und klebten babyrosa Muscheln und gelbe Schneckenhäuser auf Malteser-Verpackungen, die ich mit nach Hause nahm und meinen Freundinnen schenkte.
    »Und die Krabben«, sagte ich, und wir lachten beide. Ich wollte herausfinden, wie viele ich an einem Tag fangen könnte. Die Krabben, die wir beim Graben oder bei der Muschelsuche an der Flutlinie fanden, nahm ich mit der Schaufel auf und ließ sie in einen Eimer fallen. Am Abend schüttete ich sie in den Sand und zählte sie,
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