Das Testament der Jessie Lamb: Roman
schön auf deinem Zimmer und schmolle, bis du wieder zur Vernunft gekommen bist.«
Als Mum nach Hause kam, wusste sie es bereits; offenbar hatte er mit ihr telefoniert. Sie ging ins Nebenzimmer und schloss die Tür, und ich hörte, wie sie sich stritten. Ich weiß nicht, wie ich auf die Idee kam, aber ich hatte den Eindruck, sie machten sich gegenseitig Vorwürfe. Die Lasagne war im Backofen, und ich zog die Jacke an und trat in den Garten hinaus. Es war feucht und bewölkt, nicht besonders kalt; die unbelaubten Büsche und Stängel im Garten warfen im Schein der Straßenlaterne spitze schwarze Schatten. Baz kam mir in den Sinn, doch ich versuchte, nicht an ihn zu denken. Nein. Nein. Mum und Dad hatten sich auch schon vorher gestritten, sagte ich mir. Ich kann mein Leben nicht danach ausrichten, es ihnen recht zu machen. Ihre Stimmen erfüllten das Haus, aber hier draußen herrschte Dunkelheit, Weite und Stille. Würde meine Tochter eines Tages hier draußen stehen? Würde sie in der Dunkelheit des Gartens stehen, zu den erleuchteten Fenstern aufblicken und denken, mein Leben ist größer als ihres? Das würde sie, ganz bestimmt. Aber ich sah wieder Rosa vor mir, zugedeckt in Baz’ Bett, mich anfunkelnd wie eine Katze.
Irgendwie war der Abend gelaufen, und als er endete, war Dad wieder im Nebenzimmer, und Mum saß am Tisch und starrte auf ihre Hände. Ich räumte die Spülmaschine aus. Der vernichtende Schmerz, der von Baz und dem Elend meiner Eltern ausging, erdrückte mich fast. Erst als ich mich auf mein Vorhaben konzentrierte, konnte ich wieder freier durchatmen. Ich saß nicht in der Falle. Ich konnte entkommen. »Mum, es bringt nichts, wenn er die Arbeit aufgibt, das ändert nichts …«
»Vielleicht ändert es etwas für ihn.«
Er würde sich nur einen anderen Job suchen müssen, der ihm weniger zusagen würde. Ich nahm ihr gegenüber Platz und ergriff ihre Hand.
»Was willst du?«, fragte sie.
»Ich möchte, dass ihr akzeptiert, was ich tue, und nicht fies zueinander seid.«
»Du bist nicht schuld, wenn wir uns streiten.«
»Nein, aber …«
»Und du kannst nicht im Ernst glauben, wir würden uns mit deinem Vorhaben jemals abfinden.«
»Ihr habt mir das Leben geschenkt. Dann müsst ihr mir auch erlauben, selbst zu entscheiden, was ich damit anfangen will.«
»Nicht, wenn du es wegwirfst …«
»Ich werfe es nicht weg. Ich opfere es für die Zukunft.«
»Die Zukunft ist etwas Abstraktes, Jess.«
»Nein, es geht um mein Kind und das Kind meines Kindes.«
»Ich will das nicht hören.«
»Aber du musst. Es macht mich glücklich, verstehst du?«
»Nein«, sagte sie, »das verstehe ich nicht. Ich weiß nicht, wie sich das anfühlt.«
»Hm. Irgendetwas muss dich doch glücklich machen? Deine Freundinnen, deine Arbeit …«
»Nein, nichts.«
»Urlaub machen.«
Sie lachte auf und schüttelte den Kopf.
»Ich kann dich glücklich machen.«
»Das ist Unsinn, Jess.«
»Mum, ich habe die Bestimmung meines Lebens entdeckt. Und du wirst dich um das Kind kümmern und es lieben.«
»Ich will nicht deine Tochter haben. Ich will meine Tochter.«
»Ich gehöre dir ebenso wenig, wie du Oma gehört hast.«
Ruckartig schob sie den Stuhl zurück und ging zur Tür. Dort hielt sie inne und kam um den Tisch herum. Sie legte mir die Hände auf die Schultern, küsste mich auf die Wange und sagte mir, sie liebe mich. Dann ging sie nach oben.
Nach einer Weile lauschte ich an der Tür zum Nebenzimmer. Dad wollte vermutlich unten schlafen, das tat er immer, wenn sie sich stritten. Ich war ihre Gefangene. Wie in Gullivers Reisen , wenn die Liliputaner ihn im Schlaf mit zahllosen Stricken fesseln, die nicht dicker sind als ein Haar, die ihn aber in ihrer Gesamtheit bewegungsunfähig machen. Irgendetwas musste geschehen.
Ich legte mich ins Bett und schaute durch die offenen Vorhänge zur Buche und zum Himmel hinaus. Ständig musste ich die Gedankentüren zu Baz zuschlagen, immer wieder, weil er sich nicht meldete und auch in Zukunft nicht melden würde und mir nichts anderes übrigblieb, als es zu verdrängen. Irgendwie musste ich zu Mum und Dad durchdringen. Ganz allmählich. Einen Schritt nach dem andern.
Die Wolke zog weg. Ich sah ein paar helle Sterne, die durchs Geäst hindurchfunkelten. Die Sterne hatten all das schon tausendmal gesehen; Eltern, die sich aufregen, weil ihr Kind fortgeht. Als ich die Augen schloss, zeichnete sich hinter den Lidern das Geäst des Baumes ab wie das Netz, aus dem ich entwischen
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